AMNOG-Verfahren könnte Blaupause für europäische Nutzenbewertung werden

Berlin – Die Einführung der europäischen Nutzenbewertung für Arzneimittel könnte auf das deutsche Bewertungssystem geringere Auswirkungen haben als auf die anderer EU-Mitgliedstaaten. Denn die deutsche Methodik könnte bestenfalls zur Blaupause innerhalb Europas werden. Diese Hoffnung äußerten mehrere Fachleute bei einer Konferenz des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) in Berlin.
Bereits seit Anfang des vergangenen Jahres ist die EU-Verordnung zur Schaffung einer gemeinsamen europäischen Nutzenbewertung (EU Health Technology Assessment, EU-HTA) in Kraft und verlangt von den EU-Mitgliedstaaten eine rechtsverbindliche Zusammenarbeit. Sie sollen Methoden und Standards für ein europaweit einheitliches Vorgehen entwickeln.
Ziel ist, bis zum Jahr 2030 schrittweise ein Verfahren zu etablieren, bei dem europaweit einheitliche wissenschaftlich-klinische Bewertungen (Joint Clinical Assessments, JCA) neuer Arzneimittel erarbeitet werden, auf deren Grundlage dann in den einzelnen Staaten die Verfahren zur Festlegung des Zusatznutzens und der Erstattung durch die jeweiligen Krankenversicherungssysteme erfolgen.
Die JCA haben keinen rechtsverbindlichen Charakter, müssen aber von den Mitgliedstaaten in ihren nationalen Nutzenbewertungsverfahren berücksichtigt werden. Nationale Verfahren werden nicht abgeschafft, könnten sich aber nach Hoffnung der EU-Kommission mit der Zeit erübrigen.
Die ausschließliche Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für Preisbildung und Erstattung soll jedoch erhalten bleiben. Auch die zuständigen nationalen Institutionen sollen keineswegs ersetzt werden, sondern den europäischen Prozess kontinuierlich gemeinsam gestalten.
Bis das Verfahren zu einer Vereinfachung führen könnte, wird es aber erst einmal ein paar Jahre umso komplizierter sein. Das EU-HTA soll nämlich stufenweise eingeführt werden: Ab 2025 sollen Onkologika und Advanced Therapy Medicinal Products (ATMP) bewertet werden, ab 2028 Orphan Drugs und ab 2030 alle anderen Arzneimittel. Bis dahin werden europäische und nationale Nutzenbewertungsverfahren also parallel existieren.
Gemeinsame Beratungsprozesse (Joint Scientific Consultations, JSC) für die Hersteller sowie weitere Stakeholder sollen vor und parallel zur Erarbeitung der klinischen Bewertungen ablaufen. Insgesamt soll der bürokratisch-administrative Aufwand für die Hersteller verringert werden.
Errungenschaften bewahren
„Ob das realisiert werden kann, wage ich aber zu bezweifeln“, erklärte der unparteiische Vorsitzende des G-BA, Josef Hecken. Er zeigte Zweifel, dass das neue Verfahren zu einer spürbaren Verbesserung der Nutzenbewertung in Deutschland führt und mahnte an, dass die Hauptaufgabe hierzulande nicht eine Angleichung an europäische Standards sei, sondern, die Errungenschaften des Verfahrens nach dem Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AMNOG-Verfahren) zu erhalten.
„Man muss das Beste aus dem AMNOG-Verfahren erhalten und das Wertvolle aus dem europäischen Verfahren nach Deutschland bringen“, sagte Hecken. „So nachvollziehbar das Anliegen der EU-Kommission nach einem einheitlichen Vorgehen und der Wunsch der Pharmaindustrie nach schnelleren, aufwandsarmen Verfahren ist: Die letzte Entscheidung über den Zusatznutzen von neuen Arzneimitteln muss im jeweiligen Versorgungskontext getroffen werden.“
Mit dem AMNOG-Verfahren sei Deutschland so gut aufgestellt wie kein anderes europäisches Land. Auch gebe es hierzulande im Gegensatz zu den allermeisten europäischen Gesundheitssystemen keine sogenannte vierte Hürde, also eine Beurteilung nach Kriterien wie Kosteneffizienz im Vergleich zu bisherigen Therapien.
Als Folge dauere es in Deutschland durchschnittlich gerade einmal 37 Tage von der Zulassung zur Markteinführung eines neuen Medikaments. In Polen beispielsweise seien es 827 Tage, aber auch in Portugal oder den Niederlanden seien es noch rund 400 und rund 300 Tage.
Auch habe Deutschland dank des AMNOG mittlerweile elf Jahre Erfahrung mit der Nutzenbewertung, vergangenen Freitag war das eintausendste Dossier dazu eingegangen. Das sei mehr Erfahrung als jedes andere Land in diesen Verfahren hat.
„Ich hoffe, man kann das System ausgehend von dem relativ konsolidierten Bewertungsstandard hierzulande in eine Richtung weiterentwickeln, bei der nicht alles Gute über Bord geworfen wird“, erklärte Hecken. Er habe dem Vorhaben zu Beginn äußerst kritisch gegenübergestanden, sehe es mittlerweile aber eher als Chance.
Prägende Rolle Deutschlands
Ähnlich ist die Sicht des Bundesgesundheitsministeriums (BMG). „Als die EU 2018 ihren ersten Verordnungsentwurf vorgelegt hat, waren wir geschockt“, erklärte Anna-Maria Mattenklotz, Leiterin des Referats „Neue Arzneimittel“ im BMG. „Wir dachten, damit ist das AMNOG am Ende, und die EU wird alle Verfahren an sich ziehen.“
Mittlerweile sehe aber auch das BMG eher eine Chance in der Zusammenarbeit, soweit es gelingen sollte, die hiesigen Errungenschaften zu bewahren und Erfahrungen einzubringen. Es sehe sehr gut aus, dass das gelingen könne.
Denn Deutschland nimmt innerhalb des EU-HTA-Prozesses eine starke Rolle ein: Es ist sowohl in der sogenannten Koordinierungsgruppe der Mitgliedstaaten als auch in den Subgruppen vertreten. Das BMG hatte dazu sich selbst, den G-BA und das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) als Vertreterorganisationen nominiert.
Hinzu kommt, dass zwei der vier Subgruppen von deutschen Organisationen geleitet werden: Der G-BA sitzt der Subgruppe „Gemeinsame Beratungen“ vor, das IQWiG der Subgruppe „Methoden-/ Verfahrensanforderungen“.
Bis die Routinearbeit beginnen kann, ist jedoch noch einiges zu erledigen: Bis Januar 2025 muss die Koordinierungsgruppe noch zahlreiche Vorbereitungsarbeiten abschließen, darunter die Erarbeitung von methodischen Leitlinien nach internationalen Standards der evidenzbasierten Medizin, Verfahrensordnungen für gemeinsame klinische Bewertungen und gemeinsame wissenschaftliche Beratungen sowie die Festlegung der Inhalte der Einreichungs- und Berichtsunterlagen.
Außerdem gehen die neuen Strukturen auch mit neuen Pflichten der Mitgliedstaaten einher. Neben der Pflicht zur Berücksichtigung der JCA-Reports – die auf eine werturteilsfreie, beschreibende wissenschaftliche Analyse des relativen Effekts des Arzneimittels beschränkt sind – müssen sie alle Daten, die auf nationaler Ebene eingereicht werden und in die EU-Dossieranforderungen fallen, unmittelbar mit der Koordinierungsgruppe teilen.
Auch sind sie verpflichtet, die JCA-Reports und EU-HTA-Dossiers an ihre nationalen Bewertungen anzufügen. Umgekehrt dürfen sie auf nationaler Ebene keine Daten anfordern, die bereits auf europäischer Ebene durch den Hersteller eingereicht wurden.
„In Bezug auf die Daten gilt dann EU first“, betonte Mattenklotz. Ziel sei, dass alle Mitgliedstaaten auf dieselben Daten zugreifen, „sozusagen einen einheitlichen Evidenzkörper haben.“ Dieser sei dann die Grundlage für die jeweiligen nationalen Bewertungen und Entscheidungsfindungen.
Annäherung der nationalen Verfahren
„Meine Prognose ist, dass dann das gegenseitige Verständnis wächst. Man wird voneinander lernen auch Kompromisse schließen müssen“, erklärte sie. „Langfristig werden sich die nationalen HTA-Systeme aufeinander zu bewegen.“
Neben der intensiven europäischen Kooperation als politisches Friedens- und Standortprojekt könne eine gemeinsame Datengrundlage vor allem der Vermeidung von Doppelarbeit dienen. Doch auch Mattenklotz räumte ein: „Bis wir einen wirklichen Nutzen aus dem neuen System ziehen, wird es noch einige Jahre dauern.“
Eher bringt Deutschland Expertise ein, betonte auch Beate Wieseler, Leiterin des Ressorts Arzneimittelbewertung des IQWiG und Vorsitzende der Subgruppe „Methoden-/ Verfahrensanforderungen“. Mit seinen Vorarbeiten im Rahmen des Netzwerks EUnetHTA21 habe das IQWiG bereits wesentliche Vorarbeiten geleistet.
„Im Wesentlichen wird es so sein, dass wir auf Basis von EUnetHTA Leitlinien und Methoden entwickeln“, erklärte sie. Der Schritt von AMNOG zu EU-HTA sei folgerichtig. Das europäische Verfahren muss aber so gestaltet werden, dass wir den Übergang in die nationale Entscheidung gut hinkriegen.“
Was allerdings alle Referenten einmütig betonten: Der Zeitplan zur vorgeschriebenen Erarbeitung der Leitlinien, Verfahren und Methoden bis Ende kommenden Jahres sei sehr sportlich. Ihn einzuhalten, werde für alle Beteiligten eine große Herausforderung.
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