Bundesverfassungsgericht verhandelt über Freiheitsbeschränkung durch Fixierung

Karlsruhe – Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) verhandelt morgen und übermorgen über die Frage, unter welchen Voraussetzungen Menschen ihre Freiheit entzogen werden darf. In beiden Fällen liegen Verfassungsbeschwerden von Patienten vor, die beim Aufenthalt in psychiatrischen Einrichtungen gegen ihren Willen ans Bett gefesselt wurden. Beide machen geltend, vor ihrer Fixierung hätte die Zustimmung eines Richters eingeholt werden müssen.
Welchen Stellenwert Karlsruhe dieser Frage beimisst, wird allein daran deutlich, dass der von Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle geleitete Zweite Senat eine zweitägige mündliche Erörterung anberaumt hat und damit dem Thema auch medial größtmögliche Aufmerksamkeit beschert – schließlich geht es aus Sicht des Gerichts „um die schwerste Form der Freiheitsbeschränkung“.
Zwei Beschwerden
In dem Fall aus Bayern wurde der Beschwerdeführer an Armen, Beinen sowie an Bauch, Brust und Stirn acht Stunden ans Krankenbett gefesselt. Eine spezielle Ermächtigung als Grundlage dieser Maßnahme sieht das Unterbringungsgesetz des Freistaats nicht vor. Erfolglos machte der Betroffene später Schadensersatz und Schmerzensgeld geltend.
Der andere Beschwerdeführer wurde in Baden-Württemberg auf ärztliche Anordnung hin über Tage wiederholt fixiert. Der Verfahrenspfleger des in einer geschlossenen Einrichtung lebenden Mannes wendet sich gegen das Landesgesetz über Hilfen und Schutzmaßnahmen bei psychischen Krankheiten, weil es die Grundlage des Vorgehens ist. Beide Männer gehen davon aus, dass die Verfassungsmaßstäbe für den Eingriff in ihr Freiheitsgrundrecht verletzt wurden.
Erörtert werden soll mit den geladenen Sachverständigen unter anderem, wie häufig es im psychiatrischen Alltag Fälle der Fixierung gibt und welche Lösungen beispielsweise die europäischen Nachbarländer haben. Ein anderes Thema ist die Frage, ob solche Maßnahmen künftig immer vorab durch eine richterliche Entscheidung gedeckt werden müssen.
Mit der Frage der Rechtfertigung von Freiheitsentzug befasst sich aktuell auch der Deutsche Ethikrat und will bis zur Jahresmitte eine entsprechende Empfehlung vorlegen. Ethikrat-Mitglied Franz-Josef Bormann verlangt klare Kriterien, um Zwangsmaßnahmen, die tatsächlich dem Wohl Betroffener dienen, von solchen abzugrenzen, die in Wahrheit vorrangig den Interessen Dritter entsprechen – also „wohltätiger Zwang“ gegen „fremdnützigen Zwang“.
Für grundgesetzlich geschützt hält der Tübinger Theologe allein Maßnahmen, die „einen Kern unaufgebbarer Fürsorge“ betreffen – etwa Eltern, die ihr kleines Kind physisch daran hindern, über eine vielbefahrene Straße zu laufen, oder medizinische Zwangshandlungen zulassen, um die magersüchtige Jugendliche vor dem Hungertod zu retten. In solchen Fällen sei Fürsorge moralisch „nicht nur möglich, sondern sogar notwendig“.
Ethiker für Kulturveränderung
Ist ein Mensch indes erwachsen und volljährig, kann für Bormanns auch der Schweregrad einer Selbstschädigung nicht das alleinige Kriterium für Eingriffe in die Selbstbestimmung sein. Wer sich etwa bei voller Urteils- und Einwilligungsfähigkeit selbst in Erwartung des Todes der Operation des gebrochenen Blinddarms verweigert, darf laut Bormanns wegen der Rechtsordnung schon heute nicht zwangsbehandelt werden – auch wenn eine solche Haltung völlig unvernünftig erscheint und gegen moralische Pflichten gegen sich selbst verstößt.
Skeptisch zeigt sich der Ethiker, ob die zunehmend engeren Karlsruher Vorgaben für Freiheitsentzug das Problem lösen. Im Zweifel könne künftig „allein die Zwangstechnik geändert werden und ein Mensch erhält die entsprechenden Tabletten, um nicht mehr fixiert werden zu müssen“. Notwendig sei deshalb eine „Kulturveränderung“, die bei der Ausbildung von Ärzten und Pflegepersonal beginnen müsse. „Es gilt, nicht nur ein Sensorium für die Vielfalt praktizierter Zwangsmaßnahmen zu entwickeln, sondern auch die ethische Urteilskraft zu schärfen, um ungerechtfertigte Zwangsmaßnahmen als solche zu identifizieren und möglichst zu vermeiden.“
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