Ethikrat: Zwang in der Psychiatrie wirft viele Fragen auf

Berlin – Der Deutsche Ethikrat hörte gestern in Berlin Sachverständige zum Thema „Zwang in der Psychiatrie“ an. Es war „die größte Anhörung, die der Ethikrat je durchgeführt hat“, betonte der Vorsitzende Peter Dabrock. Dabei ging es im Wesentlichen um Zwangseinweisungen, Zwangsbehandlungen, aber auch um die strukturellen Zwänge in der Psychiatrie.
Vor allem in stationären Einrichtungen sind nach Ansicht des Ethikrates Maßnahmen zu beobachten, „die aufgrund ihres Zwangscharakters einen schwerwiegenden Eingriff in die Grundrechte der betroffenen Personen darstellen, sodass sie in besonderem Maße ethisch und rechtlich rechtfertigungspflichtig sind“.
Der Deutsche Ethikrat arbeitet derzeit an einer Stellungnahme zu den Fragen, welche Rolle Zwangsmaßnahmen in der Psychiatrie aber auch in der Pflege, der sozialen Arbeit, der Kinder- und Jugendhilfe sowie in der Behindertenhilfe spielen. Er will herausfinden, inwieweit diese ethisch und rechtlich problematisch sind und welcher Veränderungsbedarf für die Praxis und deren gesetzliche Regulierung besteht. Von besonderem Interesse sind für den Ethikrat solche Zwangsmaßnahmen, die mit dem Selbstschutz der Betroffenen begründet werden, der sogenannte wohltätige Zwang.
„Manche Patienten sind im Nachhinein dankbar für die Zwangsbehandlung, andere kämpfen dagegen. Wir nehmen die Sorgen und Nöte der Menschen sehr ernst“, betonte Ethikrat-Vorsitzender Dabrock. „Zwang ist immer ein tiefgreifender Eingriff in die Persönlichkeitsrechte. Wir wollen die Praxis besser verstehen, und auch erfahren, wie Zwang vermieden werden kann“, erklärte Sigrid Graumann, Vorsitzende der Arbeitsgruppe des Deutschen Ethikrates, die sich mit dem Thema Zwang befasst.
„Zwang ist keine Wohltat, und institutioneller Zwang ist ethisch nicht zu rechtfertigen“, erklärte Andreas Heinz, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Charité – Universitätsmedizin Berlin. Eine Behandlung gegen den Willen des Patienten könne grundsätzlich erwogen werden, wenn keine Krankheitseinsicht vorliege, erhebliche Selbst- und Fremdgefährdung angenommen werden müsse, bei Wahnwahrnehmung und Halluzinationen sowie wenn krankheitsbedingt keine Einsichtsfähigkeit in die Folgen der Handlung vorliege. Die Zwangsbehandlung muss jedoch richterlich genehmigt werden (siehe Kasten).
Zu Bedenken gab Psychiater Heinz, dass es auch Patienten gebe, die „wollen nicht aus ihrer Psychose rausgeholt werden“. Auch ein Recht auf Obdachlosigkeit könne man im Zweifelsfall niemandem absprechen. Es gebe auch ein Recht darauf, in einer Patientenverfügung Zwangsmaßnahmen für sich auszuschließen. Wenn ein Amtsrichter dann anordne, jemanden mit einer solchen Verfügung in der Psychiatrie unterzubringen, sei das „nicht durchdacht“, so Heinz.
Nach Ansicht von Klinikdirektor Heinz können Zwangsmaßnahmen minimiert werden, wenn die psychiatrischen Kliniken „die Türen öffnen“ würden. „Auch die Entweichungszahlen sind bei uns extrem gesunken, seit wir offene Türen haben.“ Extrem wichtig sei es auch, ausreichend Personal zu haben, um mit den Betroffenen zu reden und eventuelle vom Zweck der Behandlung zu überzeugen. Stationäre Teams, die zu den Betroffenen nach Hause gehen (Home-Treatment) können nach Heinz‘ Ansicht ebenso helfen, Zwangsmaßnahmen zu reduzieren. Auch Psychiatrie-Erfahrene, die auf Station gehen (sogenannte Ex-In), könnten zu diesem Ziel beitragen.
Heinz wies auch darauf hin, dass große Stationen mehr Probleme mit Gewalt und Aggressionen der Patienten hätten, was dann Zwangsmaßnahmen notwendig machen kann, als kleinere. Auch Klinikgärten und Balkone zum Rauchen könnten helfen, die Patienten zu beruhigen, erklärte er.
Zwangsmaßnahmen „nur bei Lebensgefahr“
Von den rund 420 psychiatrischen Kliniken in Deutschland hätten 400 eine geschlossene Abteilung, nur rund 20 verzichteten auf eine solche, berichtete Martin Zinkler, Chefarzt der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik der Kliniken Landkreis Heidenheim. „Die Spanne der Fälle angewandter Zwangsmaßnahmen in den Kliniken variiert stark von teils nur ein Prozent bis hin zu rund zehn Prozent“, berichtete er. In seiner Klinik werde auf neuroleptische Zwangsmaßnahmen und auch auf „Zwangszimmer“ verzichtet, wenngleich manchmal doch Fixierungen vorgenommen werden müssten. „Meiner Ansicht nach befördert Zwang nur den Drehtüreffekt und sollte nur angewandt werden, wenn Lebensgefahr besteht.“
Der Patientenvertreter Jurand Daszkowski wies darauf hin, dass Zwangsmaßnahmen „immer sehr traumatisierend wirken“. Auch belasteten die deutlich das Vertrauensverhältnis zum Arzt. Nicht zu unterschätzen seien auch die Nebenwirkungen der Neuroleptika. „Ich habe auch schon von Suiziden aufgrund von Zwangsbehandlungen gehört“, berichtete er. Zu Bedenken gab er, dass alternative Einrichtungen für Menschen in psychotischen Krisen, wie Soteria oder Weglaufhäuser, mit deutlich weniger Zwangsmaßnahmen auskämen.
„Der Ruf nach zwangsweiser Unterbringung von Menschen in der Psychiatrie ist immer ein Ausdruck der Hilflosigkeit von Institutionen“, sagte Matthias Rosemann, Leiter des Projekts „Zwangsvermeidung im psychiatrischen Hilfesystem“, das vom Bundesgesundheitsministerium gefördert wird. Die Frage stelle sich immer, wie lange man zuschauen soll, bis ein Mensch sich selbst gefährdet, indem er abmagert, verwahrlost, die Nachbarn mit Geruch oder Lautstärke belästigt oder den Verlust seiner Wohnung riskiert. Vor einer psychiatrischen Unterbringung gebe es immer auch andere Möglichkeiten.
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