Digitalgesetze wecken Befürchtungen und Hoffnungen

Berlin – Die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) warnt davor, dass mit den heute vom Bundestag verabschiedeten Digitalgesetzen neue Belastungen auf die ambulante Versorgung zukommen. In den anderen Bereichen des Gesundheitswesens sind die Reaktionen durchwachsen.
„Die beiden Gesetze mitsamt Änderungsanträgen haben das Potenzial, die Arbeit der niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen erneut mit Bürokratie und ‚Digitalisierungsberatung‘ zu belasten“, erklärte KBV-Vorstandsmitglied Sibylle Steiner heute.
SPD, Grüne und FDP hatten erst vor wenigen Tagen mit umfangreichen Änderungsanträgen zum Gesetz zur Beschleunigung der Digitalisierung im Gesundheitswesen (DigiG) und dem Gesundheitsdatennutzungsgesetz (GDNG) die Pflichten für Ärztinnen und Ärzte sowie Psychotherapeutinnen und Psychotherapeutinnen bei der Arbeit mit der elektronischen Patientenakte erweitert.
Ärzte müssen Versicherte informieren
So soll die Eintragung von Daten aus Arztbriefen und Daten zu Befunden beziehungsweise Befundberichte nicht mehr im Ermessen der behandelnden Ärzte liegen, sondern verpflichtend sein. Auch müssen Ärzte die Versicherten darüber informieren, welche Daten sie in die ePA übermitteln und dort speichern, sowie einen daraufhin erklärten Widerspruch in der Behandlungsdokumentation protokollieren. Zusätzlich sollen sie darauf aufmerksam machen, dass die Versicherten auch von ihrem Recht Gebrauch machen können, die Verarbeitung zu beschränken.
„Mit den umfangreichen Aufklärungspflichten dürfte die effektive Behandlungszeit an Patientinnen und Patienten noch weiter abnehmen“, erklärt Steiner. Aktuellen Zahlen des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung (Zi) zufolge berichtet die übergroße Mehrheit der Niedergelassenen, dass Digitalisierungsmaßnahmen ihren Praxisablauf beeinträchtigen würden. „Ich habe daher große Sorge, dass DigiG und GDNG den Frust in den Praxen weiter erhöhen und am Ende noch mehr Kolleginnen und Kollegen über einen vorzeitigen Ausstieg aus der Versorgung nachdenken.“
Auch das Zi selbst verweist auf diese Umfrage. Bei den am häufigsten genutzten Softwaresystemen komme es für die Mehrheit der Praxen fast wöchentlich zu Systemabstürzen mit den entsprechenden Folgen für die Arbeitsabläufe.
„In dieser äußerst angespannten Situation will die Regierungskoalition mit dem komplexen Gesetzgebungsverfahren zur beschleunigten Digitalisierung im Gesundheitswesen auf Biegen und Brechen die elektronischen Gesundheitsakte verpflichtend einführen“, kritisiert der Vorstandsvorsitzende Dominik von Stillfried. „Das hat das Potenzial, die ambulante medizinische Versorgung unmittelbar zu gefährden und den Frust in den Praxen zu maximieren.“
Gassen sieht Benachteiligung der Niedergelassenen
KBV-Vorstandschef Andreas Gassen wiederum kritisiert, dass vor allem das DigiG die ambulante Versorgung gegenüber dem stationären Bereich benachteiligen würde – beispielsweise bei der Pflicht zur Nutzung des E-Rezepts.
„Hier wird mal wieder mit zweierlei Maß gemessen“, sagte Gassen. „Auf der einen Seite bekommen Krankenhäuser einen Freifahrtschein, Niedergelassene werden dagegen vollumfänglich verpflichtet – weiterhin unter Androhung von Sanktionen, versteht sich.“
Auch bei der Befüllung der ePA seien es einseitig die Niedergelassenen, die in die Pflicht genommen werden, moniert der stellvertretende Vorstandsvorsitzende Stephan Hofmeister. „Das wird für alles andere als Begeisterungsstürme in den Praxen sorgen“, sagte er. „Auch die Krankenkassen müssten eigentlich ihrer Pflicht zur Aufklärung über die ePA nachkommen, tun dies aber weiterhin nicht zufriedenstellend.“ Das ließe befürchten, dass auf Praxen letztlich doppelte Arbeit zukomme.
Auch Zi-Chef Stillfried sieht diese Ungleichbehandlung. Die Ausnahme der Krankenhäuser von den Sanktionen begründe der Gesetzgeber damit, dass derzeit die flächendeckende Verfügbarkeit von Krankenhausinformationssystemen (KIS), Highspeed-Konnektoren und TI-Gateways fehle. Da die Kliniken dies nicht zu verantworten hätten, sei eine Sanktionierung nicht verhältnismäßig.
„Anders als den Praxen steht den Kliniken jedoch seit dem 1. Januar 2021 über den Krankenhauszukunftsfonds ein Fördervolumen von insgesamt bis zu 4,3 Milliarden Euro zur Digitalisierung zur Verfügung“, wendet Stillfried. „Das hat aber offenbar nicht ausgereicht, um die Krankenhäuser am E-Rezept teilhaben zu lassen.“
Hier werde offensichtlich mit zweierlei Maß gemessen, was wiederum die Frustration der Niedergelassenen befördere. Angesichts der Tatsache, dass laut Zahlen des Zi rund 70 von ihnen bereits erwägen, vorzeitig aus der Patientenversorgung auszusteigen, täte der Gesetzgeber demnach gut daran, zu prüfen, ob nicht auch bei den Arztpraxen Förderung vor Sanktionierung gelten sollte.
Wenig Hoffnung beim Hausärzteverband
Unterstützung erhält die KBV vom Hausärztinnen- und Hausärzteverband. Dieser lehne „die kurzfristigen Änderungen, die ohne jede Beratung und Rückkoppelung mit den Praktikern quasi über Nacht ins Digitalgesetz gekommen sind“, ebenfalls mit Nachdruck ab, erklärte seine Bundesvorsitzende, Nicola Buhlinger-Göpfarth.
„Bis zum heutigen Tag funktioniert die Technik so schlecht, dass es in der Regel mehrere Minuten dauert, bis die ePA überhaupt eingesehen werden kann – von vernünftig eingespeisten Daten ganz zu schweigen“, betonte sie. All dies sei mit dem dicht getakteten Praxisalltag absolut unvereinbar.
„Vor diesem Hintergrund und den Erfahrungen der letzten Jahre fehlt uns der Glaube daran, dass die verantwortlichen Akteure es schaffen, diese massiven Probleme innerhalb eines Jahres in den Griff zu bekommen“, unterstrich Buhlinger-Göpfarth.
Vielmehr setze sich der Gesetzgeber mit diesen Änderungen massiv selbst unter Druck. „Er muss jetzt ohne Wenn und Aber garantieren, dass die Technik störungsfrei läuft und die Übertragung der Daten in die ePA automatisiert funktioniert“, erklärte sie. Ansonsten sei das Chaos programmiert. „Der Gesetzgeber macht sich anscheinend sehr viele Gedanken darüber, wie er bei Ärztinnen und Ärzten die Daumenschrauben festziehen kann. Es wäre sinnvoller, diese Zeit und Energie in die Frage zu stecken, wie er den Technik-GAU in den Griff bekommen will.“
Die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) wiederum sieht die beiden Gesetze deutlich positiver. Er begrüße sehr, dass heute ein wichtiger Schritt gemacht worden ist, erklärte ihr Vorstandsvorsitzender Gerald Gaß. Insbesondere die beschleunigte Einführung der ePA und die verbesserte Nutzung von Gesundheitsdaten für Forschungszwecke und zur Weiterentwicklung der Patientenversorgung seien ein Fortschritt auf dem Weg, den deutschen Rückstand aufzuholen.
„Selbstverständlich kann man im Detail einzelne Regelungen kritisch hinterfragen“, räumt Gaß ein. „Wichtig ist aber, dass die bisher extrem restriktive Regelung zur Gesundheitsdatennutzung nun zugunsten besserer Forschung und damit bessere Versorgung angegangen wird.“
Nun müsse noch die Interoperabilität verbessert, die Cybersicherheit erhöht und digitale Versorgungprozesse in strukturierte Behandlungsprogramme ermöglicht werden. „Diese Zielsetzung des Gesetzes unterstützen wir als Krankenhäuser vorbehaltlos“, so Gaß. „Jetzt geht es darum, für all diese wichtigen und richtigen Schritte die praktikable Umsetzung zu gewährleisten.“
Hartmannbund fordert konstruktive Debatte
Das mahnte auch der Hartmannbund an. Es sei ein Armutszeugnis für die Verordnungs- und Gesetzgeber sowie für die Industrie, dass in der öffentlichen Debatte immer noch nicht über den von niemandem bezweifelten medizinischen und versorgungsrelevanten Nutzen digitaler Anwendungen gesprochen werden kann, sondern noch immer über deren grundsätzliche Funktionalität und Kompatibilität diskutiert werden muss.
„Durch die vor diesem Hintergrund erforderlichen Debatten über unrealistische Zeitpläne und unangemessene Sanktionen werden die Chancen von Digitalisierung fahrlässig zerredet, notwendige Akzeptanz und Vertrauen werden aufs Spiel gesetzt oder gar zerstört“, kritisiert der Vorstand in einer gemeinsamen Erklärung.
Es könne keinen Zweifel am Willen der Kolleginnen und Kollegen in Praxen und Kliniken geben, alle zur Verfügung stehenden, medizinisch und ethisch vertretbaren technischen Möglichkeiten zu nutzen, um die Versorgung zu optimieren. Allerdings sei im Moment nicht abzusehen, dass der von Ärzten politisch erwartete oder angeordnete Einsatz digitaler Anwendungen auf Basis der vorhandenen technischen Voraussetzungen in vollem Umfang möglich ist.
„Dieses Dilemma aufzulösen ist Aufgabe der Politik – und zwar nicht auf dem Rücken der Akteure in der Versorgung“, erklärte der Hartmannbund.
Die Apothekerschaft hingegen begrüßt unter anderem, dass die Gesetze die Einführung sogenannter assistierter Telemedizin in Apotheken vorsehen. Sie solle dem Ärztemangel begegnen, erklärte der Vorsitzende des Deutschen Apothekerverbandes (DAV), Hans-Peter Hubmann: „Die Apotheken arbeiten schon jetzt hochdigitalisiert, sie sind bereit für neuartige Versorgungskomponenten. Bei der konkreten Umsetzung kommt es aber darauf an, Einflüsse von kapitalgesteuerten Anbietern einen Riegel vorzuschieben.“
Auch die Regelungen zum E-Rezept begrüßt Hubmann. „Dass das E-Rezept ab 2024 nun auch für die Arztpraxen verpflichtend eingeführt wird, ist nur konsequent“, sagte er. „Noch holpert das neue Verordnungssystem an etlichen Stellen. Die Apotheken versorgen E-Rezepte aber schon längst – egal, ob die Verordnungen über die elektronische Gesundheitskarte (eGK), den Ausdruck oder über die gematik-App in die Apotheken kommen.“
Patientenschützer zeigen sich empört
Harten Widerstand erhalten die Gesetze hingegen von der Deutschen Stiftung Patientenschutz. „Schwerstkranke und Pflegebedürftige, die ihre informationelle Selbstbestimmung ausüben wollen, werden durch die Einführung der elektronischen Patientenakte benachteiligt“, erklärt ihr Vorstand Eugen Brysch. „Das heute bestehende Recht auf einen Medikationsplan in Papierform wird ihnen dann verwehrt.“
Auch bei der Beteiligung der ePA habe diese Patientengruppe das Nachsehen, weil wichtige Altbefunde nicht eingepflegt werden müssen. Zudem blieben digital unerfahrene Menschen außen vor.
„Ebenso ist es ein Verstoß gegen Grundrechte, dass selbst anonymisierte Gesundheitsdaten ohne Zustimmung der Betroffenen an die pharmazeutische Forschung weitergegeben werden“, unterstreicht Brysch. Die Forschung werden jedoch im Gegenzug nicht verpflichtet, alle Ergebnisse zu publizieren.
Brysch hofft deshalb darauf, dass die Judikative die Gesetze kassiert: „Viel zu oft verschwinden unliebsame Erkenntnisse in den Schubladen. Es ist zu hoffen, dass das Bundesverfassungsgericht das Lauterbachsche Gesetzesvorhaben ausbremst.“
Auch die BAG Selbsthilfe kritisiert, die Patienten seien nicht ausreichend in die Ausgestaltung der Gesetze eingebunden worden. Ihre Bedürfnisse an ein digitales Gesundheitswesen würden bislang nicht erfüllt.
„Ein technologisches Projekt dieser Größe und mit dieser Auswirkung auf die Gesamtbevölkerung sollte mit angemessener Umsicht sowie Transparenz des politischen und technologischen Entwicklungsprozesses bearbeitet werden“, kritisiert Bundesgeschäftsführer Martin Danner. „Angesichts der anzustrebenden zukünftigen Tragfähigkeit eines digitalisierten Gesundheitswesens, ist hier ein Eilverfahren nicht angebracht.“
Krankenkassen finden Zeitplan zu straff
Von Kassenseite kommt inhaltlich weitestgehende Zustimmung zu den Gesetzen, allerdings kritisiert der GKV-Spitzenverband die Ausweitung der Zuständigkeiten, die den Ombudsstellen der Kassen zukommen. Es werde Versicherten bei ihrer Entscheidung helfen, dass die Ombudsstellen zur ePA beraten und informieren sollen. Das sei nachvollziehbar, erklärte die Vorstandsvorsitzende, Doris Pfeiffer.
Allerdings gehe die Aufgabenbeschreibung der Ombudsstellen zu weit. Laut Gesetzentwurf sollen sie in der Lage sein, für Versicherte eine Verwaltung von feingranularen Widersprüchen in deren ePA zu übernehmen. „Das ist realitätsfern und bindet unnötige Ressourcen“, sagte Pfeiffer. „Den Widerspruch direkt gegenüber den jeweiligen Leistungserbringenden zu erklären, ist sicherlich die unbürokratischere Lösung.“
Auch der Zeitplan, die ePA für alle schon zum 1. Januar 2025 einzuführen, sei zu straff. „Die kurze Frist ist zwar ein richtiges Signal an die Industrie, so schnell wie möglich gut ausgereifte Produkte an den Start zu bringen“, erklärt die Vorstandsvorsitzende Doris Pfeiffer.
„Aber damit die Versicherten genug Zeit für eine informierte Entscheidung für oder gegen die ePA und die Krankenkassen zur Vorbereitung der opt-out-Lösung haben, sollte die ePA für alle im Juli 2025 starten.“ Denn letztlich helfe es niemandem, wenn die opt-out-ePA zwar schnell, aber dafür unausgereift eingeführt werde.
Der Medizinische Dienst Bund wiederum begrüßt, dass mit dem Digitalgesetz die Videobegutachtung zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit eingeführt wird. „Das ist ein weiterer wichtiger Schritt zur Flexibilisierung der Begutachtungsformate, um mit Blick auf den demografischen Wandel und den Fachkräftemangel weiterhin den zeitnahen Zugang der Versicherten zu den Pflegeleistungen sicherstellen zu können“, erklärte die stellvertretende Vorstandsvorsitzende Carola Engler.
„Es kommt nun darauf an, die Videotelefonie für alle geeigneten Begutachtungsfälle nutzbar zu machen“, fordert sie.
Hochschulmedizin sieht Gesetze als Durchbruch
Auf große Zustimmung treffen die Gesetze bei der Deutschen Hochschulmedizin (DHM). Patienten würden von der besseren Verfügbarkeit von Daten erheblich profitieren, erklärte Jens Scholz, Erster Vorsitzender des Verbandes der Universitätsklinika Deutschlands (VUD): „Für die Forschung stellen die zukünftig verfügbaren Daten einen großen Schatz dar, an den die Universitätsmedizin hohe Erwartungen knüpft.“
Insbesondere mit dem GDNG würden nun Voraussetzungen geschaffen, die Forschung im Verbund von Universitätsmedizin und anderen Institutionen auf höchstem Niveau erleichtern und in der Folge Spitzenversorgung leisten können.
„Gesundheitsforschung wird für eine bestmögliche Versorgung erheblich erleichtert und das Netzwerk Universitätsmedizin und die Medizininformatik-Initiative werden ihr Potenzial noch weiter entfalten können“, ergänzt Matthias Frosch, Präsident des Medizinischen Fakultätentages.
„Kaum einer weiß, dass circa 75 Prozent der Forschungsvorhaben entweder von der pharmazeutischen Industrie getragen oder finanziert werden“, erläutert dazu Kai Joachimsen, der Hauptgeschäftsführer des Bundesverbands der Pharmazeutischen Industrie (BPI). „Diese Innovationsfähigkeit und das Innovationspotenzial der Branche sind in Deutschland gefährdet, wenn die Entwicklung von medizinischen Innovationen einzig und allein auf Basis unternehmenseigener Datenbestände eingeschränkt bleibt.“
Der BPI begrüße deshalb die Absicht, durch neue Instrumente wie der zentralen Datenzugangs- und Koordinierungsstelle sowie dem Konzept einer federführenden Datenschutzbehörde, bürokratische Hürden abzubauen. „Insofern geht das heute verabschiedete GDNG in die richtige Richtung, weitere Maßnahmen müssen jedoch folgen“, sagte Joachimsen.
So brauche es unter anderem die Anbindung weiterer Register an das Forschungsdatenzentrum (FDZ), den Abbau weiterer bürokratischer Hürden bei der Beantragung und Durchführung von klinischen Studien sowie eine nutzenorientierte Auslegung der Datenschutzgrundverordnung. Das Medizinforschungsgesetz könne daher ein weiterer wichtiger Schritt sein.
Diskutieren Sie mit
Werden Sie Teil der Community des Deutschen Ärzteblattes und tauschen Sie sich mit unseren Autoren und anderen Lesern aus. Unser Kommentarbereich ist ausschließlich Ärztinnen und Ärzten vorbehalten.
Anmelden und Kommentar schreiben
Bitte beachten Sie unsere Richtlinien. Der Kommentarbereich wird von uns moderiert.
Diskutieren Sie mit: