Politik

Bundesregierung will Netz von 1.000 Gesundheitskiosken aufbauen

  • Mittwoch, 31. August 2022
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD). /picture alliance, Roland Weihrauch
/picture alliance, Roland Weihrauch

Hamburg – Mit neuen Gesundheitskiosken will die Bundesregierung die gesundheitliche Versorgung in sozial benachteiligten Gebieten verbessern. Bundesweit sollten rund 1.000 solcher Anlaufstellen errichtet werden – etwa einen auf 80.000 Bundesbürger. Das kündigte Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) heute bei einem Besuch eines Gesundheitskiosks in Ham­burg an.

Wichtigste Aufgabe der Kioske sei es, für Menschen mit „besonderem Unterstützungsbedarf“ den Zugang zur Versorgung zu verbessern und die Versorgung zu koordinieren. Auch einfache medizinische Routineaufgaben sollen demnach in den Kiosken erhältlich sein – etwa das Messen von Blutdruck und Blutzucker, Verbands­wechsel, Wundversorgung und subkutane Injektionen. Die Arbeit in den Kiosken sollten examinierte Pflege­fachkräfte leisten. Künftig könnte diese Aufgabe auch Community-Health-Nurses übernehmen.

Zu den Aufgaben der Kioske zähle zudem, die Gesundheitskompetenz von Menschen in sozial benachteiligten Stadtvierteln und Regionen zu verbessern und individuelle Beratung zur Unterstützung eines „gesundheits­förderlichen Lebensstils“ anzubieten, ist den Eckpunkten aus dem Bundesministerium für Gesundheit (BMG) zu entnehmen, die dem Deutschen Ärzteblatt vor­liegen. Zudem sollten weitergehende medizinische Behand­lungen vermittelt werden können.

Finanziert werden sollen die Kioske nach Lauterbachs Vorstellung von den Krankenkassen und den Kommu­nen. Die Krankenkassen sollten 74,5 Prozent der Gesamtkosten tragen, die private Krankenversicherung (PKV) 5,5 Prozent und die Kommunen 20 Prozent.

Der AOK-Bundesverband monierte den Finanzierungsplan. „Angesichts der prekären Finanz­lage der gesetzli­chen Krankenversicherung sei das „nicht machbar“, sagte Carola Reimann, Vorstandsvorsitzen­de des AOK Bun­desverbandes. Für die Kosten, die von der GKV zu übernehmen wären, müsste zumindest eine Refinanzie­rungs­option aufgezeigt werden.

Eine Beteiligung der Kommunen von 20 Prozent reiche nicht aus. Dass sich andere Sozialleistungsträger be­teiligen, sollte verbindlich festgelegt werden. Unklar bleibt für die AOK, warum der Anteil der PKV auf ledig­lich 5,5 Prozent begrenzt bleibt. „Der Gesundheitskiosk, der medizinische und soziale Versorgungsbedarfe der Bürgerinnen und Bürger gleichermaßen in den Blick nimmt, ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe“, so Reimann.

Über die Errichtung der Kioske sollen die Kommunen entscheiden. Die Landesverbände der Krankenkassen sind dann verpflichtet, diese gemeinam mit den Kommunen und dem Öffentlichen Gesundheitsdienst (ÖGD) wettbewerbsneutral zu errichten, wie es heißt. Sie können auch als mobile Angebote aufgebaut werden, also etwa in Bussen. Die Arbeit der Kioske soll evaluiert werden.

„Weder der Geldbeutel noch der Wohnort“ dürfe über die Behandlung von Patienten entscheiden, erklärte Lau­terbach. „Selbst in strukturell schwachen Gebieten sollen alle die Möglichkeit haben, schnell und kompetent in Gesundheitsfragen beraten zu werden und unbürokratisch Hilfe zu erhalten.“

Beratung, Vermittlung und vorbeugende Maßnahmen seien „Beispiele für die Lücken im System, die so in be­nachteiligten Regionen geschlossen werden sollen“. Die gesetzlichen Regelungen sollten „zeitnah“ folgen.

Projekt aus dem Innovationsfonds

Vorbilder der Gesundheitskioske gibt es in Finnland, den USA oder Kanada. Die Initiative ist ein Prestige­pro­jekt von Lauterbach, der heute den bundesweit ersten Gesundheitskiosks im Hamburger Stadtteil Billstedt besuchte, um seine Ideen vorzustellen.

Der vom Ärztenetz Billstedt-Horn und weiteren Partnern, darunter drei Krankenkassen, aufgebaute Gesund­heitskiosk ist ein Paradebeispiel für Innovation im Gesundheitswesen. Das Ziel: Durch Vernetzung von Ärzten, Pflegeheimen, Hebammen, Sportvereinen, Schulen, Volkshochschule und Krankenkassen die Eigenverant­wor­tung von Patienten zu stärken und die Ärzte zu entlasten.

Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) hat das Projekt drei Jahre lang aus seinem Innovationsfonds geför­dert und anschließend allen Gesundheitsministerien der Länder und des Bundes den Aufbau empfohlen. In Billstett und Horn leben 20 Prozent der Einwohner von Sozialleistungen, 54 Prozent haben einen Migrati­ons­hintergrund. Die Menschen im Stadtteil leiden viel häufiger und früher an chronischen Krankheiten als der Hamburger Durchschnitt.

Der Ärztemangel ist groß. Im Durchschnitt versorgen 1,25 Ärzte 1.000 Einwohner – weniger als die Hälfte des Hamburger Durchschnitts mit 2,59 Ärzten je 1.000 Einwohner. Dies ist einer der Gründe dafür, dass die Zahl der Notaufnahmen in den Krankenhäusern seit Jahren steigt.

Dabei dauerte es Jahre, bis der Kiosk zu dem wurde, was er heute ist. Es begann 2012, als zwei Ärzte aus dem Viertel zusammen mit dem Gesundheitsökonomen Alexander Fischer Ideen für eine bessere Gesundheitsver­sor­gung entwickelten.

Rund fünf Jahre später wurde der Gesundheitskiosk in einem ehemaligen Ramschladen neben einem Ein­kaufs­center eröffnet: drinnen ein schicker Tresen, mehrere Sprechzimmer und ein Gymnastikraum mit Hula-Hoop-Reifen. Drum herum ein Netzwerk von Ärzten, Pflegekräften und Sozialarbeitern.

Der Gesundheitskiosk arbeitet nach eigener Darstellung mit mehr als 100 Einrichtungen im Stadtteil zusam­men. Seit 2018 gibt es das kostenlose Angebot; im ersten Jahr wurden mehr als 3.000 Beratungen geleistet.

Prävention wird großgeschrieben. Die Beraterinnen und Berater führen auf ärztliche Veranlassung Untersu­chun­gen wie Blutdruckmessungen oder Impfungen durch, vermitteln Behandlungen in Arztpraxen und Kran­kenhäusern, begleiten chronisch Kranke, beraten beim Abnehmen oder bei der Raucherentwöhnung – mög­lichst in der Muttersprache der Kunden.

Eine Studie des Hamburg Center for Health Economics hat ergeben, dass eine Beratung a la Billstedt sogar Kosten im Gesundheitswesen senken könne, zum Beispiel im Hinblick auf weniger Arztbesuche und geringere Ausgaben für Arzneimittel.

Auch die Zahl der Krankenhausbehandlungen konnte nachweislich gesenkt werden, weil sich Patienten nicht sofort auf den Weg in die Kliniken begaben, sondern die Arztpraxen in der Nähe wählten. Insgesamt erfassten die Wissenschaftler einen Rückgang der vermeidbaren Krankenhausfälle im Vergleich zu den anderen Stadt­teilen Hamburgs um fast 19 Prozent.

Zeitgleich stieg die Anzahl der Arztbesuche in Billstedt und Horn im Vergleich zu den anderen Stadtteilen Hamburgs um durchschnittlich 1,9 Besuche pro Versichertem und Jahr.

afp/kna/may

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