Ausland

„Unterbrechung des Einsatzes kommt derzeit nicht infrage“

  • Dienstag, 9. April 2024

Berlin – Rund eine Woche ist es her, dass Mitarbeiter der Hilfsorganisation Word Central Kitchen (WCK) bei einem israelischen Luftangriff im Gazastreifen getötet wurden. Sie hatten Nahrungsmittel an hungernde Menschen geliefert. WCK setzte in der Folge die Hilfe vor Ort aus, ebenso wie weitere internationale Hilfs­organisationen. Sie forderten unter anderem einen weitreichenderen Schutz für ihre Teams.

Internationale Mitarbeitende von Ärzte ohne Grenzen sind indes weiter im Gazastreifen aktiv. Das Deutsche Ärzteblatt hat mit dem Geschäftsführer Deutschland der Hilfsorganisation darüber gesprochen, wie sie auf die Tötung des siebenköpfigen WCK-Teams reagiert haben und wie die Arbeit im Gazastreifen derzeit aufrechter­halten werden kann.

Christian Katzer /Ärzte ohne Grenzen
Christian Katzer /Ärzte ohne Grenzen

Fünf Fragen an Christian Katzer, Geschäftsführer von Ärzte ohne Grenzen Deutschland

Welche Konsequenzen zieht Ärzte ohne Grenzen aus dem Angriff auf WCK? Was bedeutet er für die weitere Arbeit im Gazastreifen?
Der tödliche Angriff auf die WCK-Mitarbeitenden ist extrem schockie­rend. Ich persönlich und die ganze Organisation sprechen den Fami­lien der getöteten Mitarbeiter unser Beileid aus. Es ist traurig, aber wahr, dass insgesamt laut Zahlen der Vereinten Nationen schon mehr als 220 humanitäre Helferinnen und Helfer seit Oktober im Gazastreifen gestorben sind.

Wir besprechen täglich, inwieweit wir vor Ort arbeiten können und wie wir die Sicherheit unserer Mitarbeitenden, aber auch der Patientinnen und Patienten gewährleisten können – so auch nach dem jüngsten Angriff.

Wir wägen täglich ab, was möglich ist – und mussten auch schon öfter trotz des großen Risikos die Entscheidung treffen, Patienten zu verle­gen. Wir waren in der Vergangenheit auch schon mehrfach gezwungen Krankenhäuser zu evakuieren, um das Personal und die Patienten zu schützen.

Das ist aber schwierig, weil wir nicht immer alle Patienten mitnehmen können. Zum Beispiel bedeutet die Ver­legung von Patienten, die beatmet werden müssen, selbst hier in Westeuropa bereits ein hohes Risiko. Insofern geht es bei Fragen der Evakuierung oder des Abzugs von Personal immer um Menschenleben.

Steht für Sie je nach weiterer Entwicklung auch ein Rückzug aus dem Gazastreifen zur Debatte?
Das ist Teil der laufenden Diskussion. Wir fragen uns, was unsere Hilfe bewirken kann und wo wir unsere Mit­arbeitenden und unsere Patienten einem zu großen Risiko aussetzen. Im Moment ist die Abwägung noch ein­deutig: Eine weitere Arbeit hilft den Patienten. Wir können auch schwerste Kriegsverletzungen behandeln und helfen, den darüber hinaus bestehenden medizinischen Bedarf abzudecken, auch wenn es sehr schwierig ist.

Wir unterstützen zum Beispiel schon länger eine Geburtsklinik, in der die Zahl der täglichen Geburten von 20 vor Kriegsbeginn auf mittlerweile 100 angewachsen ist. Wir bekommen trotzdem mit, dass viele Schwangere sich aus Angst vor Angriffen für die Vorsorge oder für die Unterstützung bei der Geburt nicht in die Gesund­heitseinrichtungen trauen. Das ist inakzeptabel.

Dabei sind alle Einrichtungen und alle Fahrzeuge klar markiert, so dass sie auch aus der Luft als humanitäre Hilfe erkennbar sind. Die Gebäude sind beflaggt, die Fahrzeuge gekennzeichnet, die Mitarbeitenden tragen entsprechende T-Shirts und Westen. Die Koordinaten der Einrichtungen und der Fahrtwege im Gazastreifen sind außerdem mit den an dem Konflikt beteiligten Kriegsparteien abgesprochen.

Aber wir haben bereits zwei Mal tödliche Angriffe auf Unterkünfte unserer Mitarbeitenden erlebt, obwohl diese ebenfalls klar markiert und kommuniziert waren. Das ist tragisch und zeigt, wie schwer Leben und Arbeiten im Gazastreifen derzeit ist. Wir betrauern bisher fünf Mitarbeitende, die seit Oktober getötet wurden. Es gibt noch weitere Kolleginnen und Kollegen, zu denen der Kontakt schon längere Zeit abgerissen ist und bei denen wir nicht wissen, ob sie noch leben.

Wie sind der Zugang und die Einsätze Ihrer Mitarbeitenden in den Gazastreifen organisiert?
Im nördlichen Gazastreifen können wir momentan nicht arbeiten, weil der Zugang dazu nicht gewährt wird. Die Sicherheitslage ist extrem schwierig. Wir arbeiten derzeit in drei Krankenhäusern und unterstützen vier Klini­ken, hauptsächlich im südlichen Gazastreifen, also vor allem in Rafah, aber auch im mittleren Gazastreifen. Über die Zahl der Einreisen können wir nicht frei bestimmen.

Generell wird auch dort die Arbeit immer schwieriger. Wir sehen, dass alle größeren Medizinstrukturen irgend­wann angegriffen wurden. Wir betreiben gerade zum Beispiel eine Entbindungsstation und eine Station, wo wir postchirurgisch Menschen länger betreuen. Die Kolleginnen und Kollegen sagen immer wieder, dass sie Beden­ken haben, dass diese Struktur mit wachsender Größe auch angegriffen werden könnte.

Wir versuchen, die Einsatzzeit der internationalen Mitarbeitenden zu beschränken, weil wir um deren körper­liche und mentale Gesundheit besorgt sind. Derzeit haben wir knapp mehr als 15 internationale Mitarbeitende im Gazastreifen. Außerdem haben wir circa 200 palästinensische Mitarbeitende unter Vertrag, zum Beispiel Pflege- und Laborpersonal sowie Fahrer – sie haben natürlich nicht die Möglichkeit, die Region zu verlassen.

Bei allen anderen stellen wir auch mit länger laufenden Verträgen sicher, dass sie nach dem Einsatz vor Ort ausreichend Ruhephasen haben, bevor die Rückkehr in den Arbeitsalltag ansteht. Das ist wichtig, denn selbst erfahrene Kolleginnen und Kollegen, die im Gazastreifen arbeiten oder gearbeitet haben, berichten, dass der Einsatz dort außergewöhnlich schockierend und sehr dramatisch ist. Die Arbeitsbedingungen sind außer­ordentlich schwierig.

Was sind derzeit die größten medizinischen Herausforderungen dort?
Ein wesentlicher Punkt ist, dass es nicht ausreichend Materialien gibt. Chirurginnen und Chirurgen berichten zum Beispiel, dass sterile Gaze nach der Benutzung ausgewaschen und wieder sterilisiert wird, um sie wieder­zuverwenden.

Das ist etwas, das wir lange nicht gesehen haben. Schmerz- und Narkosemittel sind auch nicht in ausreichen­den Mengen vorhanden. Das heißt, dass wir nicht einmal das Minimum dessen bieten können, was man medi­zinisch möchte, nämlich unnötiges Leiden vermeiden.

Hinzu kommt, dass Krebsbehandlungen komplett zusammengebrochen sind. Auch die Versorgung von Frühchen ist schwierig, weil die Inkubatoren an Generatoren hängen, für die es zu wenig Treibstoff gibt.

Durch die prekären Lebensumstände der Menschen treten zudem vermehrt Atemwegserkrankungen auf. Das ist auch ein Teufelskreis im Zusammenhang mit Mangelernährung. Wir hören auch von unseren Kollegen selbst, dass sie sehr viel Energie und Geld aufbringen müssen, um sich zu ernähren.

Gibt es Bereiche, in denen die Organisation an die Grenzen der eigenen Möglichkeiten stößt? Welche Ressour­cen sind besonders kritisch?
Glücklicherweise hätten wir eigentlich sogar die Möglichkeiten, die Kapazitäten im Gazastreifen zu erhöhen. Aber auch da sind wir aus Gründen der Sicherheit und des Zugangs derzeit limitiert. Bisher werden viele Lkw mit Hilfsgütern an den von Israel kontrollierten Grenzübergängen länger nicht abgefertigt oder gar zurückge­schickt.

Das beschränkt unsere Arbeitsfähigkeit. Die Kontrolle der Güter an sich ist verständlich, aber am Ende werden viel zu wenige Lkw durchgelassen, da sehen wir fehlenden politischen Willen. Wenn wir mehr Materialien in die Region schaffen könnten, ließe sich die Unterstützung erhöhen.

Trotzdem: Wir arbeiten auf jeden Fall weiter, eine Unterbrechung des Einsatzes kommt derzeit nicht infrage. Ich ziehe den Hut vor den Kräften vor Ort, die sich in einem Spagat befinden zwischen medizinischem Pflichtbe­wusstsein gegenüber den Patienten und ständiger Sorge um den Schutz der eigenen Familie.

ggr

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