Gemischte Bilanz zu zehn Jahren UN-Behindertenkonvention

Berlin – Zehn Jahre nach Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland haben Verbände und Politiker heute eine gemischte Bilanz gezogen. Die Konvention trat in Deutschland am 26. März 2009 in Kraft. Sie fordert Inklusion, also für alle Menschen eine uneingeschränkte und gleichberechtigte Teilnahme am gesellschaftlichen Leben. Ein Mensch mit geistigen, körperlichen oder psychischen Einschränkungen soll sich demnach nicht anpassen müssen, sondern mitten in die Gesellschaft gehören.
Die Grünen wünschten sich zum Beispiel mehr barrierefreie Zugänge im Alltag. „Ältere Arztpraxen ohne barrierefreie Zugänge bekommen keine Auflagen für ihren Weiterbetrieb, es fehlen in Deutschland Millionen an barrierefreien und altersgerechten Wohnungen und voraussichtlich wird nicht einmal der Personennahverkehr, wie gesetzlich vorgeschrieben, bis 2022 barrierefrei sein“, sagte der Spitzenkandidat der deutschen Grünen für die Europawahl, Sven Giegold.
Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt beklagte, dass der Anteil der Menschen mit Behinderungen in Heimen wachse, obwohl sich die Bundesregierung mit der UN-Konvention verpflichtet habe, ihnen ein selbstbestimmtes Wohnen in den eigenen vier Wänden zu ermöglichen. Die Regierung müsse den Trend umkehren, sagte Göring-Eckardt der Neuen Osnabrücker Zeitung. Corinna Rüffer, behindertenpolitische Sprecherin der Grünen, verlangte in der Zeitung, den Mehrkosten-Vorbehalt, der es den Ämtern erlaube, die Finanzierung zu verweigern, abzuschaffen.
Das Forum behinderter Juristinnen und Juristen (FbJJ) sprach sich für Gesetzesänderungen aus. Auch zehn Jahre nach Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention seien viele Punkte in Deutschland nicht ausreichend umgesetzt, erklärten die Juristen. Vor allem private Anbieter wie auch Ärzte sollten zu Barrierefreiheit verpflichtet werden, wenn sie Produkte oder Dienstleistungen für die Allgemeinheit zur Verfügung stellten. Weitere Vorschläge erfassen etwa Arbeitsrecht, Bildung und Barrierefreiheit und zielen auf ein selbstbestimmtes Leben.
Lange nicht am Ziel
Der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, Jürgen Dusel, betonte, für die Umsetzung der Konvention gebe er die Note „befriedigend bis ausreichend“. „Wir sind noch lange nicht am Ziel“, sagte er dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. So stellten etwa nach wie vor zu wenige Unternehmen Menschen mit Beeinträchtigungen ein. Es müsse deswegen schärfere Regeln geben.
Positiv bewertete der Aktivist Raul Krauthausen, dass der Öffentliche Nahverkehr barrierefreier geworden sei. Krauthausen beklagte im Deutschlandfunk jedoch, dass Menschen mit Behinderung nach wie vor kaum Chancen auf reguläre Beschäftigung hätten und in Behindertenwerkstätten weniger als den Mindestlohn verdienten. Der Gründer von „Sozialhelden“ kritisierte außerdem, dass die Wahlrechtsreform, die Menschen mit gewissen Behinderungen nicht mehr automatisch ausschließt, erst nach der Europawahl im Mai greife. Das sei ein absoluter Skandal.
Nach Ansicht des Sozialverbands VdK sind immer noch viele Menschen mit Behinderung von uneingeschränkten Teilhabemöglichkeiten weit entfernt. „Teilhabe ist ein Menschenrecht. Dafür muss sich noch viel bewegen, und vor allem mit mehr Tempo“, sagte Präsidentin Verena Bentele. Sie forderte, den Schutz vor Benachteiligung und Diskriminierung von Menschen mit Behinderung sowie ein Recht auf Teilhabe ohne Barrieren gesetzlich festzuschreiben.
Der Präsident des Deutschen Behindertensportverbands (DBS), Friedhelm Julius Beucher, sagte, dass sich noch vieles mehr ändern müsse, damit eine gleichberechtigte Teilhabe in der Gesellschaft Wirklichkeit werde. Unüberwindbare Hürden seien noch Sportstätten, die nicht barrierefrei seien und somit das wohnortnahe Sporttreiben für Menschen mit Behinderung einschränkten.
Das Statistische Bundesamt erklärte, es verzeichne eine hohe Inanspruchnahme von Teilhabeleistungen. 2017 hätten und 666.000 Menschen in Deutschland Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft erhalten. Dies war die am häufigsten gewährte Leistung der Eingliederungshilfe, wie das Statistische Bundesamt mitteilte.
Zu den Leistungen zählen heilpädagogische Leistungen für Vorschulkinder, Hilfen zum Erwerb praktischer Kenntnisse und Fähigkeiten für behinderte Menschen, zur Verständigung mit der Umwelt, zum selbstbestimmten Leben in betreuten Wohnmöglichkeiten oder der eigenen Wohnung und zur Teilhabe am gemeinschaftlichen sowie kulturellen Leben.
Bundesarbeitsministerin Hubertus Heil (SPD) hatte die UN-Behindertenrechtskonvention gestern als Meilenstein gewürdigt. Zugleich stellte er klar, dass sie kein Schlussstrich bedeute. Heil betonte, er wolle sich weiter für Barrierefreiheit und eine inklusive Demokratie einsetzen. Dabei sollten auch künftig bei allen Maßnahmen Menschen mit Behinderungen von Anfang an miteinbezogen werden. Deutschland war einer der ersten Staaten, der die UN-Behindertenrechtskonvention ratifiziert hat, mittlerweile gilt die Konvention in 177 Ländern.
Die Bundesbürger stehen der Inklusion grundsätzlich offen gegenüber, wie eine infas-Untersuchung mit dem Titel „Schulische Inklusion“ im Auftrag von Aktion Mensch und ZEIT unter 1.500 Erwachsenen verdeutlicht. Demnach sind 85 Prozent der Befragten der Ansicht, Menschen mit und ohne Behinderung sollten in der Gesellschaft gleichberechtigt zusammenleben. 94 Prozent sagten, dass Kinder mit und ohne Beeinträchtigung in ihrer Freizeit die Möglichkeit haben sollten, gemeinsam aufzuwachsen.
Bei der Frage, ob Kinder gemeinsam unterrichtet werden sollten, sind die Befragten zurückhaltender: 66 Prozent sprachen sich für inklusiven Unterricht aus. Eltern, deren Kinder eine Inklusionsschule besuchen, beurteilten schulische Inklusion deutlich positiver als die Gesamtbevölkerung (78 Prozent).
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