Hersteller und Politik schlagen Alarm wegen Engpässen bei Medizinprodukten

Berlin – Die EU-Medizinprodukteverordnung (Medical Device Regulation, MDR) hat einer aktuellen Erhebung zufolge starke negative Auswirkungen auf die Verfügbarkeit und Qualität von Medizinprodukten. Ärzte und EU-Gesundheitspolitiker schlagen Alarm und wollen bei der Kommission dringende Regeländerungen erreichen.
Bereits im Vorfeld des Inkrafttretens der MDR im Mai 2021 hatten Verbände und Unternehmen gewarnt, dass mit ihr unverhältnismäßige bürokratische und finanzielle Aufwände auf sie zukommen würden. Zudem wurde vor dem Nadelöhr der Benannten Stellen gewarnt, die aufgrund ihrer geringen Zahl und personellen Ausstattung mit der Bewältigung einer hohen Zahl an Anträgen überfordert sein würden.
Eine Umfrage der Unternehmensplattform Medical Mountains gemeinsam mit dem Industrieverband Spectaris und der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK) unter rund 400 Unternehmen deutet nun darauf hin, dass diese Sorgen berechtigt gewesen sein könnten.
Langwierige und kostenintensive Prozesse
Demnach verschwinden immer mehr Produkte vom Markt, werden nicht weiterentwickelt oder gar nicht erst in Europa auf den Markt gebracht, weil sich die Zertifizierungsprozesse langwierig und kostenintensiv gestalten.
Über 21 abgefragte Anwendungsgebiete und Produktgruppen hinweg ergab die Befragung, dass bei 53 Prozent aller Produktsortimente eine mindestens teilweise Einstellung des Vertriebs der Produkte in der EU erfolgt. Eine mindesten teilweise Einstellung des Vertriebs bedeutet, dass einzelne Produkte (34 Prozent), ganze Produktlinien (13 Prozent) oder sogar komplette Sortimente (sechs Prozent) eingestellt werden.
Mit 70 Prozent seien chirurgische Instrumente besonders stark betroffen, insbesondere Mikroinstrumente wie Scheren, Nadelhalter oder Pinzetten, heißt es. Auch bei Medizinprodukten in der Pneumologie, Schlafmedizin, Anästhesie und Intensivmedizin gibt es demnach mit 63 Prozent große Kürzungen, darunter vor allem Beatmungsstative, Notfallbeatmungsgeräte oder Schlafdiagnosegeräte.
Thoraxchirurgie, Traumatologie und Unfallchirurgie sowie die Radiologie seien mit 60 und jeweils 58 Prozent stark betroffen, so die Befragungsergebnisse. Nach Angaben der teilnehmenden Unternehmen gibt es in fast 20 Prozent der Fälle keine gleichwertigen Alternativen für die eingestellten Produkte am Markt – sie seien dann überhaupt nicht mehr für die Patientenversorgung verfügbar.
Besonders hoch ist der Umfrage zufolge der Anteil nicht kompensierbarer Produkte mit 38 Prozent bei Nischenprodukten. Deren Zweckbestimmung geht demnach mit einer geringen Zahl von Anwendungsfällen einher, insbesondere bei seltenen Erkrankungen, bestimmte Krankheitsstadien, Altersgruppen oder körperliche Besonderheiten wie Behinderungen.
Innovationsprojekte werden auf Eis gelegt
Als Hauptgründe für Produkteinstellungen in der EU gaben die Unternehmen zu 91 Prozent Zertifizierungskosten und 74 Bürokratie an. Auch die Tatsache, dass benötigte Zulieferprodukte aufgrund der MDR bereits eingestellt wurden, nannten 27 Prozent der Unternehmen als Grund.
Zudem erklärten 77 Prozent der befragten Firmen, dass die MDR negative Auswirkungen auf ihre Innovationsaktivitäten habe – mehr als die Hälfte von ihnen antwortete, dass sie ihre Innovationsprojekte komplett auf Eis gelegt hätten. Ebenfalls mehr als die Hälfte der betroffenen Hersteller gab an, keine Änderungen oder Optimierungen mehr an ihren Bestandsprodukten vorzunehmen.
28 Prozent der betroffenen Unternehmen erklärten zudem, zwar an Innovationen zu arbeiten, deren Erstzulassung aber nicht in der EU, sondern andernorts, vor allem in den USA, beantragen zu wollen – insbesondere, weil das dortige Zulassungsverfahren mit mehr Planungssicherheit für die Betriebe verbunden sei. 26 Prozent dieser Gruppe gaben an, dass sie ihre Abteilungen für Forschung und Entwicklung deshalb mittel- bis langfristig in Länder außerhalb der EU verlagern wollen.
Ein deutliches Beispiel für die Unterschiede bei den Zulassungsverfahren sind Ballonatrioseptostomiekatheter, die im sogenannten Rashkind-Manöver in der Kinderkardiologie zum Einsatz kommen, erklärte der Ärztliche Direktor der Klinik für Kinderkardiologie und angeborene Herzfehler am Universitätsklinikum Heidelberg, Matthias Gorenflo, heute in Brüssel.
In den USA koste die Zulassung eines solchen Ballonkatheters umgerechnet 3.000 bis 3.200 Euro, in Deutschland seien es rund 135.000 Euro. Während die FDA in der Regel ein Zeitlimit von 30 Tagen für die Zulassung einhalte, dauere es in Europa 18 bis 24 Monate. Folge seien immer größere Beschaffungsschwierigkeiten bei diesen Produkten.
„Wir haben hier keinerlei Interessenskonflikte“, betonte er mit Blick auf die Forderungen der Industrie. „Das Problem ist derart eklatant, dass wir jetzt laut werden müssen.“ Mittlerweile würden essenzielle Medizinprodukte in der Versorgung fehlen.
„Wir müssen immer mehr improvisieren und Materialien zweckentfremden, was zu einer wachsenden Unsicherheit führt“, pflichtete ihm Stephan Schubert, Chefarzt der Kinderkardiologie am Herz- und Diabeteszentrum NRW in Bad Oeynhausen, bei.
Er forderte vor allem Ausnahmen für Orphan Devices, die – wie Orphan Drugs bei Arzneimitteln – für geringe Fallzahlen vorgesehen sind. „Da brauchen wir eine Sonderregelung wie es sie in den USA gibt. Das regen wir in den Fachgesellschaften auch schon seit langem an“, betonte er.
Bundesgesundheitsminister antwortet nicht
„All diese Probleme sind dem Bundesgesundheitsminister bekannt. Wir haben sie schriftlich an ihn adressiert, aber nicht einmal eine Antwort bekommen“, betonte auch Gorenflo, der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Pädiatrische Kardiologie und Angeborene Herzfehler (DGPK) ist.
Auf taube Ohren im Bundesgesundheitsministerium (BMG) stößt nach eigenen Angaben auch Peter Liese, CDU-Abgeordneter im Europaparlament und gesundheitspolitischer Sprecher der dortigen EVP-Fraktion. Gemeinsam mit anderen Fraktionsmitgliedern, darunter Angelika Niebler, Co-Vorsitzende der CDU/CSU-Gruppe und Vorsitzende der CSU-Europagruppe, habe er sich deshalb an EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen gewandt.
„Wir haben schon bei der Einführung der MDR gewarnt, dass die eine oder andere Regel nicht mehr Sicherheit, sondern vor allem mehr Bürokratie verursachen wird“, erklärte er heute in Brüssel. „Aber das Ausmaß der Probleme habe auch ich damals nicht geahnt. Deshalb fühle ich mich verantwortlich, jetzt Abhilfe zu schaffen.“
Er habe bereits in der Vergangenheit mehrfach versucht, bei EU-Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides ein Einlenken zu erreichen. Doch dort sei nicht erkennbar, dass dem Ernst der Lage entsprechend schnell gehandelt würde.
„Es ist unsinnig, an einem bürokratischen Zertifizierungssystem festzuhalten, das dazu führt, dass Hersteller ihre Medizinprodukte bei der FDA in den USA anmelden“, kritisierte auch Niebler. Europa vertreibe damit seine hochinnovativen mittelständischen Betriebe und riskiere gleichzeitig, dass die Patientensicherheit gefährdet wird. „Eine solche innnovationsfeindliche Politik muss korrigiert werden. Wir müssen jeden einzelnen Artikel der Medizinprodukteverordnung auf den Prüfstand stellen.“
Gemeinsam würden sie deshalb nun eine Liste mit zehn Forderungen für die Änderung der MDR an die Kommission übermitteln. Unter anderem müssten schnellstmöglich besondere Regeln für Orphan Devices analog zur Regelung in den USA eingeführt werden. Mindestens für die Übergangszeit sei eine Aussetzung der Zertifizierung von Orphan Devices, wie Geräten für die Kinderkardiologie, erforderlich.
Zumindest für Produkte geringer Risikoklassen müsse die fünfjährige Rezertifizierungspflicht aufgehoben werden. Diese verursache unnötige Bürokratie und Kosten, was dazu führe, dass Hersteller ihre Produkte vom Markt nehmen, wenn es sich nicht mehr rechnet.
Darüber hinaus brauche es eine personelle sowie materielle Aufstockung der benannten Stellen sowie ein Priorisierungsverfahren für innovative Medizinprodukte, inklusive eines Fast-Track-Verfahrens für die Genehmigung von Medizinprodukten, die lebensrettend sein können.
Zudem müsse die MDR schnellstmöglich auch systematisch überarbeitet werden: Alle Regeln, die keine Sicherheit, sondern nur bürokratischen Aufwand bringen, müssten gestrichen werden.
Die Kommission müsse nun handeln und einen Plan erstellen, wie die negativen Auswirkungen der MDR verringert werden können, um eine ausreichende Lieferfähigkeit von Medizinprodukten sicherzustellen, erklärte Liese: „Wir fordern, dass dieser Plan so schnell wie möglich vorgelegt wird.“
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