Politik

Solidarität für Ukraine, Debatte um Kostenverteilung der Flüchtlinge

  • Donnerstag, 17. März 2022
Der Präsident der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj, richtete sich heute in einer Videoansprache an den Deutschen Bundestag. /Screenshot DÄ
Der Präsident der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj, richtete sich heute in einer Videoansprache an den Deutschen Bundestag. /Screenshot DÄ

Berlin – Die Ukraine kann weiterhin mit humanitärer Unterstützung aus Deutschland und mit Solidarität rechnen. Das hat Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (Grüne) heute im Parlament bekräf­tigt. Eine Debatte gibt es über die Finanzierung der Kosten für Flüchtlinge. Die medizinische Versorung läuft in Deutschland nach Ansicht von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) gut.

Göring-Eckardt sicherte dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, der sich heute im Bundes­tag per Videobotschaft an die Abgeordneten gewendet hatte, und der Bevölkerung seines Landes heute deutsche Solidarität zugesichert. „Die Welt steht der Ukraine bei. Auch Deutschland ist an Ihrer Seite“, sagte Göring-Eckardt vor einer Videoansprache Selenskyjs im Bundestag.

„Viele Menschen in den Nachbarländern der Ukraine und auch Deutschland helfen, wo sie können, sam­meln Spenden, organisieren Hilfslieferungen, kümmern sich um die Kriegsflüchtlinge“, sagte die Bundes­tagsvizepräsidentin. Sie spürten allerdings, „dass neben menschlicher Solidarität eine entschlossene Politik notwendig ist“. Der russische Präsident Wladimir Putin hab mit seinem Krieg in der Ukraine „auch unsere Friedensordnung angriffen“.

Putin wolle der Ukraine „eine eigene Geschichte“ und Identität sowie das Existenzrecht absprechen. „Doch damit ist er schon jetzt gescheitert“, zeigte sich Göring-Eckardt überzeugt. „Die Ukrainerinnen und Ukrainer sind geeinter und entschlossener als je zuvor. Sie zeigen jeden Tag, wie stark ihr Freiheitswille ist.“

Ausführlich wies Göring-Eckardt auf das Leid der Zivilbevölkerung in der Ukraine hin. Es würden „Wohn­häuser, Krankenhäuser, Schulen, Kindergärten“ angegriffen. „Es trifft schutzlose Menschen. Alte, die in Kellern sitzen und nicht fliehen konnten, weil sie zu krank sind. Schwangere, ja Wöchnerinnen mit ihren Neugeborenen.“

Göring-Eckardt forderte ein sofortiges Ende der Angriffe und den Abzug der russischen Truppen aus der Ukraine. Zu Beginn der Bundestagssitzung erhoben sich die Abgeordneten und applaudierten Selenskyj. Die einleitenden Worte oblagen Göring-Eckardt, weil Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) an Corona erkrankt ist und sich daher isolieren muss.

„Bitte helfen Sie uns“, sagte der ukrainische Präsidenten Selenskyi in einer rund 20-minütigen Videobot­schaft. Insbesondere erneuer­te er seine Forderung nach der Schaffung einer Flugverbotszone, damit humanitäre Konvois die einge­kesselten Menschen in der belagerten Hafenstadt Mariupol erreichen könnten.

Der Präsident erinnerte an die Luftbrücke der westlichen Alliierten während der Berliner Blockade Ende der 1940er-Jahre. „Wir können keine Luftbrücke bauen, denn von unserem Himmel fallen nur russische Bomben.“ Sie würden nicht unterscheiden zwischen zivilen und militärischen Objekten.

„Die russischen Truppen bombardieren unsere Städte und zerstören alles, was in der Ukraine da ist. Das sind Wohnhäuser, Krankenhäuser, Schulen, Kirchen, alles. Mit Raketen, mit Luftbomben, mit Artillerie“. Tausende Ukrainer seien bereits gestorben, darunter 108 Kinder. „Und das mitten in Europa, im Jahre 2022.“ Wieder werde versucht, in Europa ein ganzes Volk zu vernichten.

Eine Posse gab es am Ende der Rede von Selenskyi, nach dem die Union sich im Bundestag darüber be­klagte, dass nach der Rede keine Zeit für eine Debatte zum Ukraine-Krieg anberaumt worden sei. Ein An­trag dazu von CDU und CSU sei abgelehnt worden. Die Union hatte der Tagesordnung, die gestern ein­stimmig von den Fraktionen beschlossen worden war, aber zuvor selbst zugestimmt.

Ringen um Kostenaufteilung

Unterdessen ringen Bund und Länder um eine faire Kostenaufteilung für die Versorgung und Unterbrin­gung ukrainischer Kriegsflüchtlinge in Deutschland. Die Ministerpräsidentenkonferenz (MPK) mit Bun­des­kanzler Olaf Scholz (SPD) beschlossen heute, für die Klärung der Frage eine Arbeitsgruppe einzuset­zen. Diese soll am 7. April Ergebnisse vorlegen.

Der Vorsitzende der MPK, Nordrhein-Westfalens Regierungschef Hendrik Wüst, hatte vor der Videoschalte an den Bund appelliert, die Länder bei der Ankunft ukrainischer Geflüchteter mehr zu unterstüt­zen.

Der Bund müsse sich stärker bei der Koordination und Verteilung engagieren, damit „nicht einige Städte und Länder komplett überfordert werden“, sagte der CDU-Politiker im ARD-„Morgenmagazin“. Auch an­dere Ministerpräsidenten haben bereits finanzielle Unterstützung vom Bund für die Unterbringung der Flüchtlinge eingefordert.

Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) zeigte sich überzeugt, dass Deutschland die Flücht­linge aus der Ukraine gut medizinisch versorgen kann. „Ich glaube, dass wir das schaffen“, sagte er ges­tern Abend in der Sendung „RTL Direkt“. Er habe sich am Berliner Hauptbahnhof ein Bild von der Lage und dem Gesundheitszustand der Geflüchteten gemacht. „Es sind Menschen, die schon einen weiten Weg hinter sich haben und die wir gut medizinisch versorgen können.“

Lauterbach sagte weiter: „Nach dem Asylbewerberleistungsgesetz werden wir eine umfängliche medizi­ni­sche Versorgung anbieten.“ Besonders schwer verletzte Ukrainer würden aus dem Land herausge­holt. Hilfsorganisationen brächten sie aus der Ost- in die Westukraine und von dort in Anrainerländer, meist Polen, und dann nach Deutschland.

Der Gesundheitsminister verwies auf das in der Coronakrise angewandte „Kleeblattsystem“, nach dem die Flüchtlinge auf die Bundesländer verteilt werden. Noch seien es „zum Glück nicht so viele“, die medizi­nisch betreut werden müssten, fügte Lauterbach hinzu. Deutschland sei aber „leistungsbereit“.

Nach einem dringenden Appell des ukrainischen Ärzteverbandes wurde jetzt auch ein „Ukraine Medical Help Fund“ von dem Weltärztebund (WMA), dem Ständigen Ausschuss der Europäischen Ärzte (CPME) und dem Europäischen Forum der Ärzteverbände (EFMA) ins Leben gerufen, wie die drei Organisationen ges­tern mit­teilten. Ziel sei es, die ukrainischen Kollegen und die nationalen Ärzteverbände in den Nachbar­ländern zu unter­stützen, die sich in der sich verschärfenden humanitären Krise engagieren.

Die russische und die ukrainische Sektion der International Physicians for the Prevention of Nuclear War (IPPNW) haben heute eine gemeinsame Erklärung veröffentlicht, in der sie sich gegen den Krieg in der Ukraine aussprechen und vor einer weiteren Eskalation bis hin zum Atomkrieg warnen.

Die Erklärung vereine die Mediziner über die Kriegsgrenzen hinweg und baue auf dem Grundsatz der ärztlichen Pflicht, Menschen gleichberechtigt und ohne Vorurteile zu helfen, hieß es. Sie betont zudem die tiefe Verbindung zwischen Russland und Ukraine: familär, kulturell und ökonomisch. Das Statement wurde nicht öffentlich namentlich unterzeichnet, um die Ärzte auf beiden Seiten zu schützen.

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) verurteilte die Angriffe auf medizinische Einrichtungen insbe­sondere im Ukraine-Krieg. „Wir haben weltweit noch nie so viele Angriffe auf das Gesundheitswesen er­lebt“, sagte der WHO-Notfalldirektor Michael Ryan. Seit Jahresbeginn seien weltweit 89 Angriffe regis­triert worden, knapp die Hälfte davon in der Ukraine.

In den drei Wochen seit dem Beginn der russischen Invasion am 24. Februar gab es laut einer WHO-Zäh­lung mindestens 43 Angriffe auf Krankenhäuser und andere Gesundheitseinrichtungen in der Ukraine. Mindestens zwölf Menschen seien dabei getötet und 34 weitere verletzt worden. Einer der schlimmsten Angriffe traf die Entbindungs- und Kinderklinik in der Hafenstadt Mariupol in der vergangenen Woche. Dort starben drei Menschen, darunter ein Kind.

Der Krieg habe „einen Punkt erreicht, an dem das Gesundheitssystem in der Ukraine am Abgrund steht“, sagte Ryan. Auch die WHO stehe mit dem Rücken zur Wand und könne durch die zerstörte Infrastruktur nur erschwert Hilfe leisten. Nach Angaben der WHO befinden sich 300 Gesundheitseinrichtungen an den Frontlinien des Konflikts in der Ukraine oder in Gebieten, die jetzt unter russischer Kontrolle stehen. Weitere 600 Einrichtungen befinden sich im Umkreis von zehn Kilometern um die Konfliktlinie.

Die Aussagen der WHO bestätigen: Russlands Krieg gegen die Ukraine trifft immer stärker die dortige Zivilbevölkerung. Der Stadtrat des belagerten Mariupol warf der russischen Armee jetzt vor, ein Theater der Stadt mit mehr als 1.000 Schutzsuchenden darin bombardiert zu haben. Auch wurden Angriffe auf einen Flüchtlingskonvoi sowie auf Zivilisten in Tschernihiw und Kiew gemeldet. US-Präsident Joe Biden bezeichnete Kreml-Chef Wladimir Putin als „Kriegsverbrecher“.

Das russische Verteidigungsministerium dementierte den Angriff auf das Theater. Wie schon nach den Angriffen auf eine Geburtsklinik in Mariupol vergangene Woche erklärte Moskau, die Explosion gehe auf das Konto der nationalistischen ukrainischen Asow-Brigade.

afp/dpa/may

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