Ausland

Russische Ärzte fanden nach eigenen Worten keinen Cholines­terase-Hemmer bei Nawalny

  • Dienstag, 25. August 2020
Alexej Nawalny, Oppositionsführer aus Russland, wird mit Vergiftungserscheinungen auf einer Intensivstation der Charité behandelt. /Picture alliance, AP, Pavel Golovkin
Alexej Nawalny, Oppositionsführer aus Russland, wird mit Vergiftungserscheinungen auf einer Intensivstation der Charité behandelt. /Picture alliance, AP, Pavel Golovkin

Moskau – Die russischen Ärzte des im Koma liegenden Kremlkritikers Alexej Nawalny haben nach eigenen Angaben bei ihren Untersuchungen keinerlei Hinweise auf eine Ver­giftung mit einem Cholinesterase-Hemmer gefunden – ganz im Gegensatz zu den Medi­zinern der Berliner Charité, wo der 44-Jährige inzwischen behandelt wird.

Nach seiner Krankenhauseinlieferung am vergangenen Donnerstag sei Nawalny auf eine ganze Bandbreite von Substanzen einschließlich Cholinesterase-Hemmern getestet wor­den, sagte der Cheftoxikologe des Omsker Notfall-Krankenhauses Nummer 1, Alexander Sabajew, gestern russischen Nachrichtenagenturen. Das Ergebnis sei negativ gewesen.

Das sibirische Katastrophenschutzministerium ergänzte, das Krankenhaus in Omsk sei bereit, den deutschen Medizinern alle Ergebnisse der bei Nawalny vorgenommenen La­bortests sowie Materialproben zu übergeben. MRT-Aufnahmen seien bereits weitergelei­tet worden.

Chefanästhesist Boris Teplysch von der Omsker Klinik sagte russischen Nachrichtenagen­turen, Nawalny sei bereits wenige Minuten nach seiner Krankenhauseinlieferung Atropin verabreicht worden, das bei Vergiftungen mit Cholinesterase-Hemmern als Gegenmittel zum Einsatz kommt.

Die Berliner Klinik Charité, wo der prominente Kritiker des russischen Präsidenten Wladi­mir Putin seit dem vergangenen Samstag behandelt wird, geht nach eingehender Unter­su­­chung von einer Vergiftung des 44-Jährigen „durch eine Substanz aus der Wirkstoff­gruppe der Cholinesterase-Hemmer“ aus.

Auf solchen Wirkstoffen basieren einige Medikamente, Insektizide, aber auch Nervengifte wie Nowitschok oder Sarin. Acetylcholinesterase (häufig als Cholinesterase abgekürzt) ist ein für das Funktionieren des Nervensystems wichtiges Enzym. Es wird im menschlichen Körper für den Abbau von Botenstoffen eingesetzt, die Reize von Nervenzelle zu Nerven­zelle weiterleiten.

Werden diese Botenstoffe nicht mehr abgebaut – etwa weil ein Hemmer verabreicht wurde, der das entsprechende Enzym unwirksam macht – kann das zu Muskelkrämpfen und anschließend zu Herz- und Atemlähmung führen.

Als Medikament werden die Hemmer hingegen eingesetzt, wenn es einen Mangel an den Botenstoffen gibt. Bei Alzheimer, wo ein Schwund an Nervenzellen das Gehirn schädigt, helfen sie beispielsweise, die „Signalstärke“ des Denkens zu verstärken, indem die Hemmer die Wirksamkeit des Enzyms auf die Botenstoffe einschränken.

Auf der Basis eines Cholinesterase-Hemmers wurde unter anderem auch das heute ver­botene Insektizid E 605 hergestellt, das wegen seiner tödlichen Wirkung auch bei Mord­delikten verwendet wurde.

Auch Nervengifte wie Nowitschok, das 2018 in England beim Anschlag auf den russi­schen Doppelagenten Sergej Skripal eingesetzt wurde, basiert auf der Wirkung von Cho­linesterase-Hemmern. Als Gegenmittel kommt Atropin zum Einsatz, womit laut Charité derzeit auch Nawalny behandelt wird.

Der Charité zufolge sind Spätfolgen vor allem im Bereich des Nervensystems nicht aus­zuschließen. Nawalny befinde sich auf der Intensivstation und sei weiterhin im künstli­chen Koma. Sein Gesundheitszustand sei ernst, akute Lebensgefahr bestehe derzeit nicht.

Russland warf den deutschen Ärzten heute eine voreilige Giftdiagnose vor. „Die medi­zinische Analyse unserer Mediziner und die der Deutschen stimmt komplett überein. Aber ihre Schlussfolgerungen sind unterschiedlich“, sagte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow. „Wir verstehen diese Eile der deutschen Kollegen nicht.“

Der bekannte russische Anti-Korruptions-Aktivist und scharfe Kritiker von Präsident Putin war am vergangenen Donnerstag zunächst in ein russisches Krankenhaus im sibirischen Omsk eingeliefert worden, nachdem er während eines Fluges nach Moskau heftige Kräm­pfe bekommen und das Bewusstsein verloren hatte. Nawalnys Umfeld geht davon aus, dass er durch einen Tee vergiftet wurde, den er kurz vor dem Abflug getrunken hatte.

Die Bundesregierung forderte gestern nachdrücklich Aufklärung von Moskau. Die russi­schen Behörden seien „dringlich aufgerufen, diese Tat bis ins Letzte aufzuklären – und das in voller Transparenz“, erklärten Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Bundes­au­ßenminister Heiko Maas (SPD). Die Verantwortlichen müssten ermittelt und zur Re­chenschaft gezogen werden.

EVP-Fraktionschef Manfred Weber (CSU) bezeichnete es als "naheliegend", dass Moskau etwas mit dem Fall zu tun habe. Er glaube, dass Russlands Präsident Wladimir Putin in der derzeitigen Situation "zu vielem fähig" sei, sagte er auf "Bild live". "Dazu gehört auch das Töten von Menschen."

Auch die Europäische Union (EU) fordert von Russland eine „unabhängige und transpa­ren­te Untersuchung“. Die EU verurteile schärfstens den mutmaßlichen „Angriff auf Na­walnys Leben“, erklärte der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell in Brüssel.

afp/dpa/may/jff

Diskutieren Sie mit:

Diskutieren Sie mit

Werden Sie Teil der Community des Deutschen Ärzteblattes und tauschen Sie sich mit unseren Autoren und anderen Lesern aus. Unser Kommentarbereich ist ausschließlich Ärztinnen und Ärzten vorbehalten.

Anmelden und Kommentar schreiben
Bitte beachten Sie unsere Richtlinien. Der Kommentarbereich wird von uns moderiert.

Es gibt noch keine Kommentare zu diesem Artikel.

Newsletter-Anmeldung

Informieren Sie sich täglich (montags bis freitags) per E-Mail über das aktuelle Geschehen aus der Gesundheitspolitik und der Medizin. Bestellen Sie den kostenfreien Newsletter des Deutschen Ärzteblattes.

Immer auf dem Laufenden sein, ohne Informationen hinterherzurennen: Newsletter Tagesaktuelle Nachrichten

Zur Anmeldung