125. Deutscher Ärztetag: Reinhardt sieht Gesundheitspolitik als zentrales Handlungsfeld für nächste Bundesregierung

Berlin – Die Gesundheitspolitik müsse ein zentrales Handlungsfeld der nächsten Bundesregierung werden. Dies hat heute Klaus Reinhardt, Präsident der Bundesärztekammer (BÄK), im Rahmen der Eröffnung des 125. Deutschen Ärztetages in Berlin gefordert.
Die gesundheitspolitischen Ankündigungen im sogenannten Sondierungspapier von SPD, Grünen und FDP mögen inhaltlich in die richtige Richtung gehen, ausreichend seien sie aber „bei Weitem“ nicht.
Laut Reinhardt vermisse man seitens der Ärzteschaft zum Beispiel Strategien und Konzepte zur Überwindung des fortschreitenden Fachkräftemangels im Gesundheitswesen. Dabei verschlechtere sich die Personalsituationen in den Krankenhäusern, Altenpflegeeinrichtungen und mobilen Pflegediensten zusehends. Die Ergebnisse der von der Bundesregierung gestarteten Konzertierten Aktion Pflege (KAP) bezeichnete er als „bisher eher enttäuschend“. Wenn nicht bald etwas passiere, drohe der Kollaps des Systems.
Auch im ärztlichen Dienst würden alle statistischen Kennzahlen massive Personalengpässe anzeigen, warnte der BÄK-Präsident. Die Engpässe seien schon spürbar und würden sich in den nächsten Jahren dramatisch verschärfen. Viele stationäre Einrichtungen könnten ihren Betrieb nur aufrechterhalten, weil man in Deutschlannd in großem Stil Ärztinnen und Ärzte aus zahlreichen Ländern einsetze. Dieser „Brain Drain“ sei unter globalen Gesichtspunkten sicher nicht gerecht.
Reinhardt verwies in diesem Zusammenhang darauf, dass der Arztberuf bei Schulabsolventen besonders attraktiv sei: Jedes Jahr kämen auf rund 11.000 freie Studienplätze mehr als 60.000 Bewerberinnen und Bewerber. Es fehle aber an einer ausreichenden Zahl von Studienplätzen in der Humanmedizin. Bundesweit 3.000 bis 5.000 Studienplätzen mehr, dann wären wir etwa da, wo wir im Jahr der Wiedervereinigung waren, würden die angespannte Personalsituation mittelfristig sicher deutlich entschärfen“, so Reinhardt.
Eine Intensivierung der Zusammenarbeit der Gesundheitsberufe und die Entwicklung und Förderung neuer Pflegequalifikationen stelle zur Sicherung einer hochwertigen, verantwortungsvollen Patientenversorgung im Team sicher eine sinnvolle Entwicklung dar – das Problem des Mangels an Ärztinnen und Ärzten löse das aber in keinem Falle.
Reinhardt kritisierte auch mangelnde konkrete Pläne für echte Strukturreformen im Öffentlichen Gesundheitsdienst (ÖGD). Der Pakt für den ÖGD sei deshalb in ein Gesamtkonzept für eine Strukturreform des ÖGD einzubetten.
Dies umfasse mehrere Aspekte. So sollten Meldewege digitalisiert, einheitliche technische Schnittstellen etabliert und Anreize für Ärztinnen und Ärzte geschaffen werden, im Öffentlichen Gesundheitsdienst tätig zu werden. Eine tariflich gesicherte, arztspezifische Vergütung aller im ÖGD tätigen Ärzte sei dafür eine „unverhandelbare Grundvoraussetzung“.
Gebraucht werde zudem eine zentrale Stelle zur Koordinierung der Aktivitäten der einzelnen Gesundheitsämter. Reinhardt sprach von einem „Bundesgesundheitsamt 2.0“. Das Robert-Koch-Institut (RKI) könne einer solchen Bundesbehörde zuarbeiten, aber nicht selbst dessen Rolle ausfüllen.
Vielmehr brauche das RKI selbst ein „Upgrade zu einer echten Infektionsschutzbehörde“ wie in den USA – mit fachlicher und auch rechtlicher Unabhängigkeit vom Bundesministerium für Gesundheit (BMG). Ein Upgrade könne auch die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) brauchen. Konkret könne zum Beispiel das nationale Gesundheitsportal unter der Federführung der BZgA weiterentwickelt und ausgebaut sowie sein Bekanntheitsgrad deutlich erhöht werden.
GOÄ-Novelle umsetzen
Positiv bewertete Reinhardt, dass mit dem klaren Bekenntnis der Politik zum Erhalt des dualen Krankenversicherungssystems eine elementare Kernforderung der Ärzteschaft bereits mit dem Sondierungspapier erfüllt worden sei. Eine kontinuierliche Fortentwicklung und Anpassung des dualen Krankenversicherungssystems an die Herausforderungen der Zukunft sei aber „unerlässlich“.
„Grundlegend dafür ist unter anderem eine moderne, den medizinischen Fortschritt abbildende, transparente und gut verständliche Gebührenordnung für Ärztinnen und Ärzte“, betonte Reinhardt. Die Abstimmungen des gemeinsamen GOÄ-Vorschlags zwischen BÄK und PKV-Verband befänden sich in der finalen Phase – von seiten der BÄK stehe einer schnellen Umsetzung der GOÄ-Novelle nach der Bundestagswahl nichts mehr entgegen. Man erwarte von der zukünftigen Bundesregierung, dass sie den Reformstau auflöse und endlich auf die Forderung nach einer neuen GOÄ eingehe.
Kommerzialisierung eindämmen
In der Pflicht stehe die Politik auch bei der Eindämmung der fortschreitenden Kommerzialisierung im Gesundheitswesen. „Offenbar ist Teilen der Politik nicht mehr präsent, dass der ärztliche Beruf kein Gewerbe ist; er ist seiner Natur nach ein Freier Beruf", so der BÄK-Präsident.
Die Ärzteschaft lehne alle Leistungs-, Finanz-, Ressourcen- und Verhaltensvorgaben ab, welche ärztlich verantwortungsvolles Handeln tangieren und die mit ihrem ärztlich-ethischen Selbstverständnis unvereinbar sind.
Die Politik sei aufgefordert, diese ärztliche Grundhaltung auch im Sinne des Patientenschutzes vor sachfremden Einflussnahmen mit konkreten gesetzgeberischen Gegenmaßnahmen zu unterstützen. So müsse beispielsweise der Einfluss von Private-Equity-Gesellschaften auf die Versorgung im ambulanten fach- und hausärztlichen Bereich begrenzt werden.
Zusätzlich zu den bereits mit dem Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG) umgesetzten Maßnahmen seien dringend weitergehende gesetzgeberische Schritte auf Bundes- und Landesebene erforderlich. Auch der stationäre Sektor stehe unter einem erheblichen ökonomisch motivierten Druck – insbesondere wegen des starren, auf Wettbewerb ausgerichteten Fallpauschalensystems.
Reinhardt sprach sich deshalb dafür aus, für den stationären sowie für den ambulanten Bereich im Sozialrecht sowie speziell im Zulassungsrecht explizite Regelungen zu verankern, nach denen Träger von Einrichtungen unter Androhung von Sanktionen gewährleisten müssen, dass die bei ihnen tätigen Ärzte ihre berufsrechtlichen Vorgaben einhalten können.
Digitalisierung sinnvoll ausgestalten
Die Digitalisierung im Gesundheitswesen habe das Potenzial, einen positiven Beitrag zur Verbesserung der Patientenversorgung zu leisten, so Reinhardt. Die technische Umsetzung digitaler Anwendungen sei aber immer an klar definierten Versorgungszielen auszurichten.
Die Telematikinfrastruktur (TI) müsse deshalb drei grundlegenden Anforderungen genügen: Sie müsse Ärztinnen und Ärzte im Versorgungsalltag praktikabel unterstützen, sicher sein sowie für alle Patientengruppen nutzbar sein – also auch für ältere und multimorbide Menschen.
In den vergangenen zweieinhalb Jahren sei es BMG und Gematik fast ausschließlich um das Tempo gegangen. Digitale Anwendungen sollten um jeden Preis fristgerecht eingeführt werden, egal ob sie störungsfrei im Praxisalltag funktionieren oder nicht. Das Ergebnis aus Sicht der Ärzteschaft: Ständig auftretende Störungen der Telematikinfrastruktur beeinträchtigen den Praxisalltag.
Die für Anwendungen erforderliche Technik stehe entweder noch nicht oder nur unzureichend zur Verfügung und zugleich drohten Sanktionen, wenn die Technik – auch ohne eigenes Verschulden – nicht fristgerecht installiert wurde. „Viele Kolleginnen und Kollegen sind frustriert. Die Akzeptanz digitaler Anwendungen hat massiv gelitten.“
Reinhardt sprach sich dafür aus, Tempo aus der „überhasteten Digitalisierung des Gesundheitswesens“ zu nehmen. Man fordere die künftigen Ampel-Koalitionäre auf, für die Gematik ein einjähriges Moratorium festzuschreiben und in dieser Zeit die Gematik auf eine versorgungsrelevante Strategie hin neu auszurichten und die Versorgungskompetenz der Gesellschafter stärker zu gewichten.
Der BÄK-Chef bemängelte darüber hinaus, dass die Praxen die notwendigen Investitionen zur digitalen Aufrüstung bisher alleine tragen müssten. „Wenn wir hier den Turbo drücken wollen, dann braucht es auch und gerade für die Praxen einen Digitalisierungsfonds“, erklärte Reinhardt.
Krankenhaussektor reformieren
Mit dem Krankenhauszukunftsgesetz (KHZG) habe die scheidende Bundesregierung eine Förderung der Digitalisierung in den Krankenhäusern mit mehr als vier Milliarden Euro angestoßen. Ein Jahr nach Inkrafttreten des Gesetzes zeige sich aber, dass die Finanzierungswege zu kompliziert seien, in den Bundesländern unterschiedliche Regelungen und Formulare zur Anwendung kämen und viele Förderanträge in den „Mühlen der Bürokratie“ feststecken würden. Hier müssten Bund und Länder nachbessern.
Unabhängig vom KHZG, so Reinhardt, stehe das eigentliche Zukunftsprogramm für die Krankenhäuser aber noch aus. Die bekannten Missstände bei den mangelhaften Investitionen hätten maßgeblich die Bundesländer zu verantworten. Diese kämen ihrer Pflicht zur Finanzierung von Investitionen nicht nur sehr unterschiedlich nach, sondern meist auch „völlig unzureichend“. Wenn die Länder dieses Problem nicht selbst lösen könnten oder wollten, dann müsse man auch über eine geeignete Kofinanzierung des Bundes nachdenken.
Gebraucht werde außerdem eine umfassende und bedarfsgerechte Reform der Krankenhausvergütungssystematik sowie eine Reform der Krankenhausplanung. Zur Vorbereitung einer großen Krankenhausreform schlage die Ärzteschaft die Einberufung eines nationalen Krankenhausgipfels mit den Ländern, den Kommunen, der ärztlichen Selbstverwaltung, den Partnern der gemeinsamen Selbstverwaltung sowie der Pflege vor.
Eine künftige Krankenhausvergütung solle prioritär an den Kriterien von Personalbedarf, Personalentwicklung, Flächendeckung und notwendiger Vorhalteleistungen ausgerichtet werden. Die Krankenhäuser seien durch einen Mix aus pauschalierten Vergütungskomponenten zur Deckung von fallzahlunabhängigen Vorhaltekosten, einem fallzahlabhängigen Vergütungsanteil sowie einem Budget zur Strukturqualität finanziell solide aufzustellen.
Die bereits umgesetzte Ausgliederung der Personalkosten in der Pflege aus dem System der diagnosebezogenen Fallkostenpauschale (DRG) sei auch auf Ärzte auszudehnen.
Eine Reform der Krankenhausvergütungssystematik müsse begleitend zwingend mit einer stärker an den regionalen Bedarf angepassten Neuorganisation der Krankenhausplanung einhergehen. In diesem Rahmen müssten kooperative Versorgungskonzepte, intersektorale Versorgungsformen, Möglichkeiten der belegärztlichen Versorgung sowie Mitversorgereffekte – auch über Landesgrenzen hinweg – in die Krankenhausplanung einbezogen werden.
Im Ergebnis solle ein funktional und nach einheitlichen Kriterien abgestuftes, subsidiär strukturiertes Netz einander ergänzender Kliniken entstehen: spezialisierte größere Zentren in Ballungsräumen und eine gesicherte Grundversorgung in der Fläche.
Dabei solle die Verantwortung für die Krankenhausplanung bei den Bundesländern verbleiben. Aufgabe der Bundesregierung werde es sein, den Weg für eine bundesweit abgestimmte Krankenhausplanung und mehr länderübergreifende Kooperationen zu ebnen.
Klimawandel wichtiges Thema
Für das Thema Klima- und Gesundheitsschutz werde man sich im Rahmen des Ärztetages ausreichend Zeit nehmen und gemeinsam mit ausgewiesenen Experten die direkten Folgen des Klimawandels auf den menschlichen Körper sowie die indirekten Folgen für die globale Gesundheit diskutieren.
Klar sei, sagte Reinhardt, dass Deutschland bei der Prävention klimabedingter Gesundheitsgefahren noch viel zu tun habe. Noch immer sei nicht bei allen politisch Verantwortlichen angekommen, dass die gesundheitlichen Auswirkungen des Klimawandels keine ferne Bedrohung mehr sind.
Man müsse sich verstärkt auf die Folgen des menschengemachten Klimawandels auch in der Gesundheitsversorgung einstellen. Die Einhaltung der Pariser Klimaschutzziele bezeichnete Reinhardt als „unerlässlich“. Unabhängig davon seien Sofortmaßnahmen von Bund und Ländern notwendig, die die Gesundheitseinrichtungen in die Lage versetzen, neue und zusätzliche Aufgaben in der Patientenversorgung aufgrund der Erderwärmung zu bewältigen.
Neben einem nationalen Hitzeschutzplan forderte der BÄK-Chef konkrete Maßnahmenpläne für Kliniken, Not- und Rettungsdienste sowie Pflegeeinrichtungen zur Vorbereitung auf Extremwetterereignisse zu erstellen.
Eine nationale Strategie für eine klimafreundliche Gesundheitsversorgung in Deutschland sei ebenfalls erforderlich. Diese müsse auch den notwendigen Investitionsbedarf zum Beispiel für den Bau klimaneutraler Krankenhäuser sowie für die Nutzung klimaneutral gewonnener Energie im Gesundheitsbereich berücksichtigen.
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