Ärzteschaft

15 Jahre HzV: Trotz Vorteilen noch kein Durchbruch

  • Montag, 15. Mai 2023
/WavebreakMediaMicro, stock.adobe.com
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Berlin – Die Vertragspartner der Hausarztzentrierten Versorgung (HzV) in Baden-Württemberg wollen mit stärkerer Delegation und einer Akademisierung nicht ärztlicher Berufe ihr Versorgungsmodell stärken, fordern dabei aber auch Hilfe vom Gesetzgeber. Das erklärten sie heute in Berlin bei der Vorstellung der Ergebnisse wissenschaftlicher Auswertungen der HzV anlässlich ihres 15-jährigen Bestehens.

Vor allem ältere Chroniker mit Erkrankungen wie Diabetes, Asthma, der Chronisch Obstruktiven Lungenerkrankung (COPD) oder koronaren Herzerkrankungen profitieren aktuellen Auswertungen zufolge massiv von der HzV – und zwar in zunehmendem Maße.

„Die Qualitätsschere zwischen HzV und Regelversorgung öffnet sich immer weiter“, erklärte Ferdinand M. Gerlach, Direktor des Instituts für Allgemeinmedizin der Goethe-Universität Frankfurt.

Von Anfang an, also seit Mai 2008, haben Gerlach und Joachim Szecsenyi, langjähriger ärztlicher Direktor der Ab­teilung Allgemeinmedizin und Versorgungsforschung des Universitätsklinikums Heidelberg, die Auswirkungen der Selektivverträge auf Vollversorgungsbasis analysiert.

„Es gibt in Deutschland wohl keine Versorgungsintervention, die jemals so breit, so intensiv und zugleich über so einen langen Zeitraum evaluiert wurde“, unterstrich Gerlach.

Ihre Untersuchungen hätten signifikante Ergebnisse hervorgebracht, betonten beide. So würden Hochrechnungen für die Jahre 2011 bis 2020 zeigen, dass bei 119.000 Diabetikern über 11.000 schwerwiegende Komplikationen vermieden werden konnten.

Demnach seien unter anderem rund 350 Fälle neu aufgetretener Erblindung, 2.250 Schlaganfälle vermieden worden. Auch Nierenschäden und Amputationen seien deutlich seltener vorgekommen als bei vergleichbaren Patientinnen und Patienten in der Regelversorgung.

„Das ist ein wirklich relevantes Ergebnis“, betonte Gerlach. Schließlich würden diese Komplikationen nicht nur teils extreme und lebenszeitverkürzende Beeinträchtigungen, sie würden auch hohe Folgekosten verursachen.

„Mitverantwortlich ist dafür sicherlich auch die um 20 Prozent höhere Teilnahme am Disease-Management-Pro­gramm Diabetes, die in der HzV ja gezielt angereizt wird“, mutmaßte er. Die Versorgung werde so strukturierter und kontinuierlicher, was ja gerade bei Chronikern wichtig sei. Es entstehe eine „umfassende, qualitätsorientierte Versor­gungssteuerung“.

So habe es allein im Jahr 2020 zwei Millionen Hausarztkontakte mehr und 1,9 Millionen unkoordinierte Facharzt­kontakte ohne Überweisung weniger gegeben. Insgesamt betreuen in Baden-Württemberg 5.400 Ärztinnen und Ärzte 1,78 Millionen AOK-Versicherte in der HzV.

„Wir sehen über die Jahre, dass die Zahl unkoordinierter Facharzttermine bei Menschen, die an der HzV teilnehmen, kontinuierlich abnimmt“, betonte Szecsenyi. Gleiches gelte für die Zahl der Hospitalisierungen: Allein 2020 habe es unter HzV-Teilnehmern 27.000 Krankenhauseinweisungen, 125.000 Krankenhaustage sowie 5.500 Wiedereinwei­sun­gen weniger gegeben als in einer Vergleichsgruppe, die an der Regelversorgung teilnahm.

Kosteneinsparungen bei Arzneimitteln

Ähnlich sehe es bei der Medikation aus: Nicht nur habe es speziell in der Polymedikation rund 6.500 Verordnungen potenziell inadäquater Medikamente weniger gegeben, auch mit Blick auf die Medikamentenkosten seien positive Effekte zu sehen.

„Das wird auch durch die beispielhafte Qualitätszirkelarbeit innerhalb der HZV unterstützt“, erklärte Szecsenyi. „Die HzV in Baden-Württemberg ist die einzige große Versorgungslandschaft, wo Ärzte regelmäßig ein Feedback zu ihrem Medikamenteneinsatz bekommen.“

In anderen Krankheitsbildern lasse sich ähnliches beobachten. So betonte Gerlach, dass die Qualitätsvorteile auch in Längsschnittanalyse immer deutlicher würden: Bei Patienten mit koronaren Herzerkrankungen zum Beispiel seien in der HzV immer mehr Statinverordnungen und immer weniger KH-Aufenthalte zu beobachten.

Auch allgemein lasse sich eine Kostensenkung beobachten, erklärte wiederum Johannes Bauernfeind, Vorstandschef der AOK Baden-Württemberg. Nicht nur hätten Umfragen ergeben, dass 90 Prozent der Versicherten in der HzV mit ihr zufrieden sind.

Auch habe eine Untersuchung der Kasse gezeigt, dass beispielsweise 2019 die Kosten pro Versichertem in der HzV 40 Euro unter denen in der Regelversorgung gelegen hätten, erklärte er, ohne die totalen Kosten pro Versichertem zu nennen.

2022 habe die AOK Baden-Württemberg ein Honorarvolumen von 725 Millionen Euro an Haus- und Fachärzte aus­ge­schüttet, 547 Millionen davon seien an die am HzV teilnehmenden Ärzte gegangen.

„Leider ist es im Moment so, dass diese Effizienzvorteile durch den morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich teilweise abgeschöpft werden und wir so die Vorteile, die wir erarbeitet haben, nicht einsetzen können zur Verbesse­rung der Versorgung unserer Versicherten“, beklagte er.

Antwort auf die demografische Entwicklung

Nicola Buhlinger-Göpfarth, Vorsitzende des Hausärzteverbands Baden-Württemberg, sieht das Konzept als Schlüssel zu einer effizienten Nutzung der begrenzten Ressourcen angesichts der demografischen Entwicklung.

„Als die Innovationsküche im Gesundheitswesen ist die HzV schneller und flexibler, was die Implementierung zu­kunftsfähiger Konzepte angeht“, erklärte sie. 38 Prozent der Hausärzte in Baden-Württemberg seien bereits über 60 Jahre. Dabei gäbe es bereits jetzt 800 zu wenig.

„Wir setzen auf die Ausweitung der Delegation und auf interprofessionelle Versorgung. Die HzV war auch hier Vorrei­terin.“ Schon als in Baden-Württemberg vor 15 Jahren die bundesweit ersten HzV-Verträge unterzeichnet worden seien, sei mit dem Konzept der Versorgungsassistentin in der Hausarztpraxis (VERAH) der Grundstein für weitere Delegationskonzepte gelegt worden.

Es habe sich in den Auswertungen gezeigt, dass HzV-Praxen mit einer VERAH nachweislich eine intensivere und besser koordinierte Versorgung bei dauerhaft höherer Versorgungskontinuität bereitstellen, erklärte auch Szecsenyi.

Das Konzept müsse deshalb konsequent weiterentwickelt werden, betonte Buhlinger-Göpfarth, beispielsweise mit der akademisierten VERAH an fünf Standorten. Der VERAH-Studiengang „Primärmedizinisches Versorgungs- und Praxis­management“ sei im Oktober des vergangenen Jahres gestartet, ab Juli folge dann noch die Förderung mit 300 Stipendien à 5.000 Euro.

Außerdem würden Teampraxen durch höhere Zuschläge für VERAH gefördert, nämlich mit einer Erhöhung des Zu­schlags auf die Chronikerziffer P3 von fünf auf zehn Euro. Ein weiterer Zuschlag sei für die „klimaresistente Versor­gung“ vereinbart worden, ergänzte Baumgart. Nach einer Schulung zu Klima und Gesundheit könnten dann acht Euro pro Patient und Jahr auf die Chronikerziffer P3 angerechnet werden.

„Wir wollen mit diesem Impuls das Thema Klima und Gesundheit stärker in den Fokus rücken“, erklärte er. Auf die Ziffer der Chroniker werde der Zuschlag angerechnet, weil sie die größte Risikogruppe für Gesundheitsschäden durch den Klimawandel seien.

Seit 15 Jahren kein Budget

Doch Baumgart betonte noch viel grundsätzlichere finanzielle Vorteile als diese Zuschläge. „Wir haben für die Haus­ärzte und die beteiligten Fachärzte in Baden-Württemberg seit 15 Jahren kein Budget im Honorarbereich, im Rah­men dieser Verträge“, betonte er. „Die Krankenkassen übernehmen und bezahlen jeden Fall. Das ist eine völlig ande­re Welt als im Kollektivvertrag und sie funktioniert bestens.“

Hinzu komme dennoch ein neuer Zuschlag für die Beschäftigung akademisierter Mitarbeiter aus nicht ärztlichen Heilberufen. Er betrage zehn Euro auf die kontaktunabhängige Grundpauschale P1 – „wenn Sie so wollen, ein Team­praxenzuschlag“, sagte Buhlinger-Göpfarth und ging noch weiter.

„Auch die Integration weiterer Berufsgruppen ist denkbar, beispielsweise Sozialarbeiter“, führte sie aus. „Gesund­heits­kiosk können wir selbst.“ Allerdings setze sie darauf, dass die Hausarztpraxis der zentrale Ort der Versorgung bleibt. Ziel sei der Erhalt ihrer zentralen Koordinierungsfunktion, nicht „eine Zersplitterung der Versorgung mit immer mehr Schnittstellen“.

Außerdem sei es wichtig und zeitgemäß, dass die HzV-Einschreibung der Patienten künftig auch in der Praxis selbst statt bei einzelnen Ärzten erfolgen kann, betonte auch Baumgart. Das sei wichtig, da die Einschreibung beim Arzt derzeit ein strukturelles Problem darstelle, das mit der Zunahme des Anteils Medizinischer Versorgungszentren (MVZ) noch drängender werde.

Bei Unterzeichnung der ersten HZV-Verträge 2008 habe es im ambulanten Bereich rund 12.500 angestellte Ärzte gegeben. Mittlerweile habe sich deren Zahl vervierfacht. „Wenn diese Ärzte dann wechseln, müssen sie alle Patienten umschreiben“, unterstrich er. Er habe Kontakt zu vielen Praxen, die damit Schwierigkeiten haben. „Also es gibt da ein paar bürokratische Hürden.“

Generell sei die Regelungsdichte zu hoch, was es erschwere, weitere Innovationen in die Versorgung zu bringen – auch dies eine Forderung Baumgarts: Es brauche De-Regulierung und mehr Freiräume.

Auch die HzV-Kassenpflicht, die vorschreibt eine HzV anzubieten, reiche nach den Erfahrungen der Vertragspartner nicht, um deutlich mehr Patienten in die HzV zu holen, sagte Werner Baumgärtner, Vorstandsvorsitzender von MEDI Baden-Württemberg. Die Vertragspartner fordern deshalb, dass Vollversorgungsverträge von der Bundespolitik durch Anschubfinanzierungen und Bonifizierungen explizit gefördert werden.

Das sei nötig, um das Modell auch bundesweit stärker auf die Straße zu bringen: 6,12 Millionen Versicherte nähmen an der HzV teil, davon seien aber fast 30 Prozent in Baden-Württemberg, erklärte Buhlinger-Göpfarth: „Das Potenzial ist leider noch nicht ausgeschöpft. Da geht noch was.“

lau

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