Ärzteschaft

Ärztetag setzt sich für Stärkung der ärztlichen Gesundheit ein

  • Mittwoch, 29. Mai 2019
/Jürgen Gebhardt
/Jürgen Gebhardt

Münster – Der 122. Deutsche Ärztetag in Münster setzte mit seinem diesjährigen Schwerpunktthema „Wenn die Arbeit Ärzte krank macht“ ein Zeichen: Es ist für Ärz­tinnen und Ärzte unverzichtbar, auf die eigene Gesundheit und die der Kollegen zu achten und gemeinsam für gesundheitsförderliche Arbeitsbedingungen in den Kran­kenhäusern und Arztpraxen einzutreten, betonten die Delegierten heute. An die Arbeitgeber im Gesundheits­wesen appellierten sie, deutlich stärker als bisher für gesundheitsgerechte Arbeitsbedingungen zu sorgen.

Der Erhalt der eigenen Gesundheit soll nach Ansicht des Ärztetages sowohl inner­ärztlich als auch in der öffentlichen Wahrnehmung einen anderen Stellenwert be­kommen. Gemeinsam mit den Referenten berieten die Delegierten, wo gesund­heitliche Belastungen für Ärzte liegen, wie die beruflichen Rahmenbedingungen ge­ändert und welche Präventionsmaßnahmen ergriffen werden müssen.

Die Sorge für die eigene Gesundheit (self care) und die Gesundheit des Teams (staff care) trage wesentlich zur Patientensicherheit bei, betonte Monika Rieger, Direktorin des Instituts für Arbeits­medizin, Sozialmedizin und Versorgungsforschung des Universitäts­klinikums Tübingen. Allerdings herrsche eine Disbalance zwischen der Fürsorge für den Patienten und der Selbstfürsorge.

Monika Rieger /Jürgen Gebhardt
Monika Rieger /Jürgen Gebhardt

Erhalt der Gesundheit um seiner selbst willen

Ärzte sollten auf ihre eigene Gesundheit, ihr Wohl­er­gehen und ihre Fähigkeiten achten, um eine Behand­lung auf höchstem Niveau leisten zu können, heißt es auch in der Deklaration des Genfer Gelöbnisses von 2017, das heute mehrfach zitiert wurde. Klaus Beel­mann, dem Geschäftsführenden Arzt der Ärzte­kammer Hamburg, geht dies nicht weit genug: Er würde gern die Formulierung durch „um meiner selbst willen“ ergänzen. „Wir müssen für uns Wege aus der Empathiefalle finden, nicht nur für unsere Patienten“, sagte er.

Klaus Beelmann /Jürgen Gebhardt
Klaus Beelmann /Jürgen Gebhardt

Im Alltag sei Selbstfürsorge aber oft schwierig umzu­setzen, erklärten viele Delegierte heute im Verlauf der dreieinhalbstündigen Aussprache zu dem Thema. Die Arbeitssituation von vielen Ärzten sei zunehmend ge­prägt von Kosten- und Zeitdruck, Personalmangel, Arbeitsverdichtung mit Verkürzung des Arzt-Patien­ten-Kontaktes, einer Zunahme an berufsfremden Tätigkeiten, der Nichteinhaltung von Arbeitsschutz- und Arbeitszeitregelungen, einer unzureichenden Einbindung von Ärzten in organisatorische Entschei­dun­gen und dem Verlust an Handlungsautonomie.

Harald Gündel /Jürgen Gebhardt
Harald Gündel /Jürgen Gebhardt

Häufig werde die kritische Größe beim Arbeitsstress überschritten, bestätigte Harald Gündel, Direktor der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychothe­rapie am Universitätsklinikum Ulm. „Erhöht sind dann die Risiken für Depressionen sowie Herz- und Kreis­lauferkrankungen.“

Bernd Haubitz von der Ärztekammer Niedersachsen berichtete in diesem Zusammen­hang von einem eigenen Zusammenbruch nach langjähriger Dauer­belastung: „Dies hat bei mir einen Paradigmenwechsel bei der Selbstsicht bewirkt“, sagte er. „Die eigene Gesundheit zu beachten ist auch eine Frage der Ethik des Berufs.“

Bernd Haubitz /Jürgen Gebhardt
Bernd Haubitz /Jürgen Gebhardt

Nach wie vor seien zudem Infektionsgefährdungen und ergonomisch ungünstig gestaltete Arbeitsbe­din­gungen im Gesundheitswesen Realität, erläuterte Rieger. Auch würden die Chancen des technologi­schen Fortschritts für eine Entlastung der im Gesund­heitswesen Tätigen nur unzureichend genutzt; viel­mehr kommt es im Rahmen von Digitalisierungs­pro­jekten oft zu einer Belastungszunahme, meinten die Delegierten.

Viele Ärzte berichten schon in jungen Jahren von einer Erschöpfungs­symptomatik. „Von Anfang an werden wir auf Leistung getrimmt“, konstatierte Thomas Carl Stiller. „Wir stellen uns selbst ans Ende der Heilungskette.“ Dabei seien der Erhalt und die Förderung der Arbeits- und Leistungsfähigkeit sowie der Arbeitszufriedenheit nicht nur für jede Ärztin und jeden Arzt selbst unabdingbar, sondern auch aus gesellschaftlicher Perspektive unverzichtbar, um eine bessere Patientenversorgung zu gewährleisten, sind die Delegierten überzeugt.

Julian Veelken /Jürgen Gebhardt
Julian Veelken /Jürgen Gebhardt

Keine Opt-out-Erklärungen mehr

Viel Verantwortung diesbezüglich käme den ärztlichen Führungskräften und der Arbeitsorganisation zu, be­tonte Julian Veelken von der Ärztekammer Berlin. Marion Charlotte Renneberg aus Niedersachsen rief auf, die junge Generation zu unterstützen, sich für angemessene Arbeitszeiten einzusetzen. Die ange­stellten Ärzte im Krankenhaus rief der 122. Deutsche Ärztetag in einem Antrag auf, Erklärungen, die einer Überschreitung der Arbeitszeit zulassen, künftig nicht mehr zu unterschreiben be­ziehungsweise vorhandene Opt-out-Erklärungen gemeinsam abteilungsweise zu kündigen.

Marion Charlotte Renneberg /Jürgen Gebhardt
Marion Charlotte Renneberg /Jürgen Gebhardt

Bereits vor einem Jahr hatten die Delegierten des 121. Deutschen Ärztetages in einem Antrag ange­mahnt, dass Arbeitsbedingungen in allen Sektoren und ärztlichen Berufs­feldern weder die körperliche noch die seelische Gesundheit von Ärzten gefährden dürften und minimiert werden müssten. In diesem Jahr wurden die Delegierten konkreter. Im Einzelnen forderten sie

  • Arbeitsschutzregelungen einschließlich des Arbeitszeitgesetzes (ArbZG) konsequent einzu­halten,

  • Personalschlüssel auf arbeitswissenschaftlicher Grundlage auszugestalten, sodass eine patienten- und aufgabengerechte Versorgung zu jeder Zeit möglich ist,

  • Ärztinnen und Ärzte von Verwaltungstätigkeiten zu entlasten und ihnen somit mehr Zeit für die Patientenversorgung zu ermöglichen,

  • lebensphasengerechte Präventionsmodelle und Unterstützungsangebote (wie flexible Arbeitszeitmodelle) in allen Versorgungsbereichen zu schaffen, damit Beruf mit Familie und Freizeit und Pflege von Angehörigen besser miteinander vereinbar werden,

  • bestehende gute Angebote der gesetzlichen Unfallversicherungsträger und des staatlichen Arbeitsschutzes vermehrt nachzufragen und umzusetzen,

  • Organisations- und Personalentwicklung,

  • Abbau starrer Hierarchien,

  • die Einführung von Teamarztmodellen,

  • einen an der Gesundheit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter orientierten, wert­schätzenden und kooperativ ausgerichteten Führungsstil,

  • den Aufbau von Fortbildungsangeboten, auch zur Stärkung der Resilienz, sowie von Beratungsangeboten für belastete Ärztinnen und Ärzte.

Die Appelle der Delegierten richteten sich aber nicht nur an Arbeitgeber und die Ärzte selbst. In mehreren Anträgen forderte der Ärztetag auch den Gesetzgeber auf, die gesetzlichen und ökonomischen Rahmenbedingungen für gesundheitsverträgliche Arbeits­bedingungen zu schaffen sowie den freiberuflichen Charakter der ärztlichen Tätig­keit zu stärken. An die medizinischen Fakultäten appellierte der Ärztetag, die Themen Resilienz und Stressbe­wältigung als Teil der ärztlichen Ausbildung in das Studium aufzunehmen.

Neben Stress und schwierigen Arbeitsbedingungen stellt Gewalt durch Patienten beziehungsweise Angehörige eine unmittelbare Bedrohung für die Gesundheit von Ärzten und ihren Mitarbeitern dar. „Die zunehmende tägliche Gewaltbereitschaft ist inakzeptabel“, sagte Martina Wenker, Präsidentin der Ärztekammer Niedersachsen.

Es sei skandalös, dass heute bei Notfällen zunächst eine Eigensicherung notwendig sei. Neben Wenker berichteten Ärzte aus verschiedenen Versorgungsbereichen über eine zunehmende körperliche und verbale Gewalt, unter anderem in den Notaufnah­men, in Hausarztpraxen oder bei Notfalleinsätzen.

Martina Wenker /Jürgen Gebhardt
Martina Wenker /Jürgen Gebhardt

Ärztekammern bieten dafür Hilfe und spezielle Prä­ventionsangebote an. Diese Maßnahmen müssen nach dem Willen des 122. Deutschen Ärztetages aber durch einen strafrechtlichen Schutz Hilfeleistender ergänzt werden.

Konkret forderten die Abgeordneten des Deutschen Ärztetages den Gesetzgeber auf, den strafrechtlichen Schutz für Hilfeleistende bei Unglücksfällen, gemeiner Gefahr oder Not zu erweitern. Ein vom Bundesge­sund­heitsministerium eingeholtes Rechtsgutachten habe die Notwendigkeit einer sol­chen Gesetzesänderung bestätigt.

Die Delegierten forderten ferner den Ausbau von Angeboten der Primär-, Sekundär- und Tertiärprävention gegen körperliche und verbale Gewalt am Arbeitsplatz sowie die Weiterentwicklung der von der Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW) bereits aufgebauten Unterstützungsangebote für Beschäf­tigte mit posttraumatischem Syndrom.

Monika A. Rieger, Uniklinik Tübingen, über Arztgesundheit

Suchterkrankungen sollten kein Tabu mehr sein

Da Ärzte auf das anhaltende Auftreten von Arbeitsstressoren einerseits und den hohen Erwartungen an sich selbst anderseits auch mit einer Suchterkrankung reagie­ren können, beschäftigte sich der 122. Deutsche Ärztetag auch mit diesem Thema. Die Delegierten begrüßten, dass inzwischen alle 17 Landesärztekammern ein Inter­ven­­tionsprogramm für Ärzte mit einer Suchterkrankung aufgebaut haben.

Christoph Freiherr Schoultz von Ascheraden /Jürgen Gebhardt
Christoph Freiherr Schoultz von Ascheraden /Jürgen Gebhardt

Leider würde dieses noch zu wenig genutzt, erklärte Beelmann. Ziel dieser Programme sei es, einerseits betroffenen Ärzten konkrete Hilfen zu eröffnen, ande­rerseits aber auch den erforderlichen Patientenschutz zu gewährleisten. „Bezüglich Suchterkrankungen müssen wir ehrlich sein“, sagte Christoph Freiherr Schoultz von Ascheraden aus Baden-Württemberg. „Es darf keine Tabuisierung der Erkrankungen geben.“

ER/fos

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