Ärztetag setzt sich für Stärkung der ärztlichen Gesundheit ein

Münster – Der 122. Deutsche Ärztetag in Münster setzte mit seinem diesjährigen Schwerpunktthema „Wenn die Arbeit Ärzte krank macht“ ein Zeichen: Es ist für Ärztinnen und Ärzte unverzichtbar, auf die eigene Gesundheit und die der Kollegen zu achten und gemeinsam für gesundheitsförderliche Arbeitsbedingungen in den Krankenhäusern und Arztpraxen einzutreten, betonten die Delegierten heute. An die Arbeitgeber im Gesundheitswesen appellierten sie, deutlich stärker als bisher für gesundheitsgerechte Arbeitsbedingungen zu sorgen.
Der Erhalt der eigenen Gesundheit soll nach Ansicht des Ärztetages sowohl innerärztlich als auch in der öffentlichen Wahrnehmung einen anderen Stellenwert bekommen. Gemeinsam mit den Referenten berieten die Delegierten, wo gesundheitliche Belastungen für Ärzte liegen, wie die beruflichen Rahmenbedingungen geändert und welche Präventionsmaßnahmen ergriffen werden müssen.
Die Sorge für die eigene Gesundheit (self care) und die Gesundheit des Teams (staff care) trage wesentlich zur Patientensicherheit bei, betonte Monika Rieger, Direktorin des Instituts für Arbeitsmedizin, Sozialmedizin und Versorgungsforschung des Universitätsklinikums Tübingen. Allerdings herrsche eine Disbalance zwischen der Fürsorge für den Patienten und der Selbstfürsorge.

Erhalt der Gesundheit um seiner selbst willen
Ärzte sollten auf ihre eigene Gesundheit, ihr Wohlergehen und ihre Fähigkeiten achten, um eine Behandlung auf höchstem Niveau leisten zu können, heißt es auch in der Deklaration des Genfer Gelöbnisses von 2017, das heute mehrfach zitiert wurde. Klaus Beelmann, dem Geschäftsführenden Arzt der Ärztekammer Hamburg, geht dies nicht weit genug: Er würde gern die Formulierung durch „um meiner selbst willen“ ergänzen. „Wir müssen für uns Wege aus der Empathiefalle finden, nicht nur für unsere Patienten“, sagte er.

Im Alltag sei Selbstfürsorge aber oft schwierig umzusetzen, erklärten viele Delegierte heute im Verlauf der dreieinhalbstündigen Aussprache zu dem Thema. Die Arbeitssituation von vielen Ärzten sei zunehmend geprägt von Kosten- und Zeitdruck, Personalmangel, Arbeitsverdichtung mit Verkürzung des Arzt-Patienten-Kontaktes, einer Zunahme an berufsfremden Tätigkeiten, der Nichteinhaltung von Arbeitsschutz- und Arbeitszeitregelungen, einer unzureichenden Einbindung von Ärzten in organisatorische Entscheidungen und dem Verlust an Handlungsautonomie.

Häufig werde die kritische Größe beim Arbeitsstress überschritten, bestätigte Harald Gündel, Direktor der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am Universitätsklinikum Ulm. „Erhöht sind dann die Risiken für Depressionen sowie Herz- und Kreislauferkrankungen.“
Bernd Haubitz von der Ärztekammer Niedersachsen berichtete in diesem Zusammenhang von einem eigenen Zusammenbruch nach langjähriger Dauerbelastung: „Dies hat bei mir einen Paradigmenwechsel bei der Selbstsicht bewirkt“, sagte er. „Die eigene Gesundheit zu beachten ist auch eine Frage der Ethik des Berufs.“

Nach wie vor seien zudem Infektionsgefährdungen und ergonomisch ungünstig gestaltete Arbeitsbedingungen im Gesundheitswesen Realität, erläuterte Rieger. Auch würden die Chancen des technologischen Fortschritts für eine Entlastung der im Gesundheitswesen Tätigen nur unzureichend genutzt; vielmehr kommt es im Rahmen von Digitalisierungsprojekten oft zu einer Belastungszunahme, meinten die Delegierten.
Viele Ärzte berichten schon in jungen Jahren von einer Erschöpfungssymptomatik. „Von Anfang an werden wir auf Leistung getrimmt“, konstatierte Thomas Carl Stiller. „Wir stellen uns selbst ans Ende der Heilungskette.“ Dabei seien der Erhalt und die Förderung der Arbeits- und Leistungsfähigkeit sowie der Arbeitszufriedenheit nicht nur für jede Ärztin und jeden Arzt selbst unabdingbar, sondern auch aus gesellschaftlicher Perspektive unverzichtbar, um eine bessere Patientenversorgung zu gewährleisten, sind die Delegierten überzeugt.

Keine Opt-out-Erklärungen mehr
Viel Verantwortung diesbezüglich käme den ärztlichen Führungskräften und der Arbeitsorganisation zu, betonte Julian Veelken von der Ärztekammer Berlin. Marion Charlotte Renneberg aus Niedersachsen rief auf, die junge Generation zu unterstützen, sich für angemessene Arbeitszeiten einzusetzen. Die angestellten Ärzte im Krankenhaus rief der 122. Deutsche Ärztetag in einem Antrag auf, Erklärungen, die einer Überschreitung der Arbeitszeit zulassen, künftig nicht mehr zu unterschreiben beziehungsweise vorhandene Opt-out-Erklärungen gemeinsam abteilungsweise zu kündigen.

Bereits vor einem Jahr hatten die Delegierten des 121. Deutschen Ärztetages in einem Antrag angemahnt, dass Arbeitsbedingungen in allen Sektoren und ärztlichen Berufsfeldern weder die körperliche noch die seelische Gesundheit von Ärzten gefährden dürften und minimiert werden müssten. In diesem Jahr wurden die Delegierten konkreter. Im Einzelnen forderten sie
Arbeitsschutzregelungen einschließlich des Arbeitszeitgesetzes (ArbZG) konsequent einzuhalten,
Personalschlüssel auf arbeitswissenschaftlicher Grundlage auszugestalten, sodass eine patienten- und aufgabengerechte Versorgung zu jeder Zeit möglich ist,
Ärztinnen und Ärzte von Verwaltungstätigkeiten zu entlasten und ihnen somit mehr Zeit für die Patientenversorgung zu ermöglichen,
lebensphasengerechte Präventionsmodelle und Unterstützungsangebote (wie flexible Arbeitszeitmodelle) in allen Versorgungsbereichen zu schaffen, damit Beruf mit Familie und Freizeit und Pflege von Angehörigen besser miteinander vereinbar werden,
bestehende gute Angebote der gesetzlichen Unfallversicherungsträger und des staatlichen Arbeitsschutzes vermehrt nachzufragen und umzusetzen,
Organisations- und Personalentwicklung,
Abbau starrer Hierarchien,
die Einführung von Teamarztmodellen,
einen an der Gesundheit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter orientierten, wertschätzenden und kooperativ ausgerichteten Führungsstil,
den Aufbau von Fortbildungsangeboten, auch zur Stärkung der Resilienz, sowie von Beratungsangeboten für belastete Ärztinnen und Ärzte.
Die Appelle der Delegierten richteten sich aber nicht nur an Arbeitgeber und die Ärzte selbst. In mehreren Anträgen forderte der Ärztetag auch den Gesetzgeber auf, die gesetzlichen und ökonomischen Rahmenbedingungen für gesundheitsverträgliche Arbeitsbedingungen zu schaffen sowie den freiberuflichen Charakter der ärztlichen Tätigkeit zu stärken. An die medizinischen Fakultäten appellierte der Ärztetag, die Themen Resilienz und Stressbewältigung als Teil der ärztlichen Ausbildung in das Studium aufzunehmen.
Neben Stress und schwierigen Arbeitsbedingungen stellt Gewalt durch Patienten beziehungsweise Angehörige eine unmittelbare Bedrohung für die Gesundheit von Ärzten und ihren Mitarbeitern dar. „Die zunehmende tägliche Gewaltbereitschaft ist inakzeptabel“, sagte Martina Wenker, Präsidentin der Ärztekammer Niedersachsen.
Es sei skandalös, dass heute bei Notfällen zunächst eine Eigensicherung notwendig sei. Neben Wenker berichteten Ärzte aus verschiedenen Versorgungsbereichen über eine zunehmende körperliche und verbale Gewalt, unter anderem in den Notaufnahmen, in Hausarztpraxen oder bei Notfalleinsätzen.

Ärztekammern bieten dafür Hilfe und spezielle Präventionsangebote an. Diese Maßnahmen müssen nach dem Willen des 122. Deutschen Ärztetages aber durch einen strafrechtlichen Schutz Hilfeleistender ergänzt werden.
Konkret forderten die Abgeordneten des Deutschen Ärztetages den Gesetzgeber auf, den strafrechtlichen Schutz für Hilfeleistende bei Unglücksfällen, gemeiner Gefahr oder Not zu erweitern. Ein vom Bundesgesundheitsministerium eingeholtes Rechtsgutachten habe die Notwendigkeit einer solchen Gesetzesänderung bestätigt.
Die Delegierten forderten ferner den Ausbau von Angeboten der Primär-, Sekundär- und Tertiärprävention gegen körperliche und verbale Gewalt am Arbeitsplatz sowie die Weiterentwicklung der von der Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW) bereits aufgebauten Unterstützungsangebote für Beschäftigte mit posttraumatischem Syndrom.
Suchterkrankungen sollten kein Tabu mehr sein
Da Ärzte auf das anhaltende Auftreten von Arbeitsstressoren einerseits und den hohen Erwartungen an sich selbst anderseits auch mit einer Suchterkrankung reagieren können, beschäftigte sich der 122. Deutsche Ärztetag auch mit diesem Thema. Die Delegierten begrüßten, dass inzwischen alle 17 Landesärztekammern ein Interventionsprogramm für Ärzte mit einer Suchterkrankung aufgebaut haben.

Leider würde dieses noch zu wenig genutzt, erklärte Beelmann. Ziel dieser Programme sei es, einerseits betroffenen Ärzten konkrete Hilfen zu eröffnen, andererseits aber auch den erforderlichen Patientenschutz zu gewährleisten. „Bezüglich Suchterkrankungen müssen wir ehrlich sein“, sagte Christoph Freiherr Schoultz von Ascheraden aus Baden-Württemberg. „Es darf keine Tabuisierung der Erkrankungen geben.“
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