122. Deutscher Ärztetag: Gesundheitsminister Spahn betont Dialogbereitschaft

Münster – Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) war zum zweiten Mal Gast des Deutschen Ärztetages. Wie schon im vergangenen Jahr in Erfurt musste er sich auch heute in Münster einer kritischen Auseinandersetzung mit seinen zahlreichen gesundheitspolitischen Initiativen und Gesetzen stellen. Eine kleine, aber laute Gruppe unter den rund 1.000 Teilnehmern an der feierlichen Eröffnungsveranstaltung quittierte seinen Auftritt gar mit Buhrufen und Pfiffen.
„Mir liegt an einer konstruktiven Debatte, nicht schreien, nicht pfeifen“, konterte Spahn. Sein Gesprächsangebot sei kein Ritual. Er sei bereit, mit der Ärzteschaft über die Vorschläge aus seinem Haus zu diskutieren. Es gebe kein Gesetz, dass nicht im Laufe des Gesetzgebungsprozesses besser geworden sei. „Warum machen wir denn Anhörungen?“, fragte der Minister. Es gehe schließlich darum, gute Argumente aufzugreifen und möglicherweise in den Gesetzestext einzuarbeiten.
Spahn reagierte damit auch auf den Vorwurf der Intransparenz im Gesetzgebungsverfahren zum Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG). Der Gesetzentwurf habe, so Kritiker, so viele Änderungen erfahren, dass sie kaum noch nachvollziehbar waren. Man müsse auch einmal ein, zwei Sekunden innehalten und überlegen, ob nicht der andere Recht haben könnte, appellierte Spahn an seine Kritiker.
Der Minister griff auch die Kritik an der Schlagzahl seiner Gesetzesinitiativen auf. „Wir haben viel angestoßen“, sagte er. Dabei gehe es aber nicht um Masse, sondern um Qualität. Wenn man ein Problem erkenne, könne man es nicht ins nächste Jahr verschieben. „Das ist nicht meine Haltung“, sagte der Minister. „Ich versuche, etwas zu verändern.“ Als Beispiele führte er sein Vorgehen bei den Themen Organspende und Impfen an. 10.000 Menschen warteten in Deutschland zurzeit auf ein Spenderorgan. 2017 standen diesen 797 Organspender gegenüber, der niedrigste Stand seit 20 Jahren.
Eigene Position überdenken
Dabei, so Spahn, erklärten bei Umfragen regelmäßig mehr als 80 Prozent der Deutschen, sie seien grundsätzlich zur Organspende bereit. Mit besserer Information und Aufklärung allein könne man den Organmangel offenbar nicht beheben. „Da muss man seine eigene Position überdenken“, meinte Spahn.
Auch er habe vor Jahren einer Widerspruchslösung noch kritisch gegenübergestanden. Im April habe er dann einen fraktionsübergreifenden Gesetzentwurf vorgelegt, der im Grundsatz vorsieht, dass jeder volljährige Bürger automatisch als Organspender gilt, wenn er nicht ausdrücklich widersprochen hat. Bereits im Februar hatte Spahn mit dem Organspendegesetz eine bessere personelle und finanzielle Ausstattung der Krankenhäuser vorgesehen, die Organe entnehmen.

Ähnlich sei die Situation beim Impfen, so der Minister. Durch Aufklärung allein habe man Impfziele nicht erreichen können. Deshalb benötige man eine Impfpflicht in Kita, Schule und für medizinisches Personal. „Hier geht es nicht nur um die individuelle Freiheit“, erklärte Spahn. Hier gehe es auch darum, andere nicht unnötig gesundheitlich zu gefährden. „Die Ausrottung von Krankheiten wie Masern auf der Welt scheitert inzwischen an Ländern wie Deutschland,“ kritisierte er. „Das lässt mich nicht kalt.“
Der Minister ließ zudem keinen Zweifel daran, dass er die Kritik an den Eingriffen in die ärztliche Selbstverwaltung und in die Praxisabläufe durch das TSVG für überzogen und unfair hält. Die Erhöhung der Sprechstundenzeiten von 20 auf 25 Stunden wöchentlich sei ein Kompromiss mit dem Koalitionspartner SPD gewesen, so Spahn. Die Wartezeit auf einen Arzttermin für gesetzlich Krankenversicherte sei ein Aufregerthema. „Wir wollen die Situation für diese Patienten besser machen“, sagte Spahn. Zudem versicherten ihm 90 Prozent der Ärztinnen und Ärzte, dass sie ohnehin mehr arbeiteten.
Spahn verteidigte zudem die Entscheidung, die Mehrheitsanteile an der Gesellschaft für Telematikanwendungen der Gesundheitskarte (gematik) zu übernehmen. „Das hat auch etwas mit der Verlässlichkeit politischer Entscheidungen zu tun“, so Spahn. 2004 habe der Gesetzgeber die Einführung der elektronischen Gesundheitskarte (eGK) beschlossen. Sie sei noch immer nicht voll funktionsfähig. „Die eGK entwickelt sich zum Berliner Flughafen in der Gesundheitspolitik“, kritisierte Spahn. Er wolle die Entwicklung vorantreiben, weil er nicht internationalen Konzernen wie Google, Apple und Amazon das Feld überlassen wolle.
„Ich will, dass wir unsere Ideen unter anderem zum Datenschutz und zur Datensouveränität umsetzen können“, so Spahn. „Das ist der Grund, warum mir Geschwindigkeit wichtig ist.“ Die gematik sei nach 15 Jahren immer noch nicht dort angekommen, wo man hinwollte.
Jetzt übernehme das Bundesgesundheitsministerium (BMG) die Verantwortung. „Wenn ich eh die Torte im Gesicht habe, will ich sie auch zu Recht im Gesicht haben“, meinte der Minister. Er wolle die Digitalisierung im Gesundheitswesen mitgestalten und nicht erleiden. Es sei allerdings selbstverständlich, dass die Ärzteschaft dort, wo medizinischer Sachverstand gefragt sei, eingebunden werde.
„Ich bin der erste Gesundheitsminister seit 20 Jahren, der geregelt hat, dass es für zusätzliche Leistungen auch zusätzliches Geld gibt“, betonte Spahn an seine Kritiker gewandt. In der Summe sei das fast eine Milliarde Euro, die zum Beispiel für die Behandlung neuer Patienten, von Patienten in offener Sprechstunde oder für durch die Terminservicestelle vermittelte Patienten zur Verfügung stehe. Das sei ein Einstieg in die Endbudgetierung. „Das kann man ja auch mal wahrnehmen“, forderte der Minister.
Lob von Laumann
Zuvor hatte Nordrhein-Westfalens Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) seinen Parteifreund für dessen „klaren Gestaltungswillen“ gelobt und damit im Publikum lautstarken Protest ausgelöst. Laumann hob insbesondere auch auf den drohenden Ärztemangel ab. Der demografische Wandel mache auch vor dem Gesundheitspersonal nicht halt.

Von den 11.500 Hausärzten in Nordrhein-Westfalen seien 6.400 älter als 55 Jahre. Dazu komme, dass das Ausbildungssystem nicht auf die veränderten Ansprüche der nachfolgenden Ärztegeneration an die bessere Vereinbarkeit von Leben und Arbeit reagiert habe. „Wir bilden zu wenige Ärzte aus“, sagte Laumann.
In Nordrhein-Westfalen reagiere man inzwischen auf die Situation. An der Universität Bielefeld entstehe ein Lehrstuhl für Medizin. Außerdem sei das Land das erste, das eine Landarztquote eingeführt habe. Jedes Jahr sollen 175 Studierende zusätzlich zum Medizinstudium zugelassen werden, wenn sie sich dazu verpflichten, zehn Jahre als Hausarzt in einem unterversorgten Gebiet zu arbeiten. „Es haben sich genügend Willige gefunden, die sonst keinen Studienplatz bekommen hätten“, sagte Laumann. Für die 175 Studienplätze habe es mehr als 1.300 Bewerber gegeben.
Noch unter dem Eindruck der Europawahl am 26. Mai hatte zuvor der Präsident der Bundesärztekammer (BÄK), Frank Ulrich Montgomery, an das aus seiner Sicht bewährte Prinzip der Subsidiarität erinnert, das insbesondere für die europäische Gesundheitspolitik gilt. In diesem Bereich achten die Mitgliedstaaten in der Regel penibel darauf, dass Brüssel nur in den Fällen tätig wird, in denen nationale Alleingänge keinen Sinn machen, beispielsweise bei der Abwehr von grenzüberschreitenden Gesundheitsgefahren.

Montgomery schlug den Bogen zur aktuellen Gesundheitspolitik in Deutschland. Hier stelle die Bundesregierung die Arbeitsteilung zwischen Staat und Selbstverwaltung zunehmend infrage, kritisierte der BÄK-Präsident. Jüngstes Beispiel: die Anhebung der Mindestsprechstundenzahl der Vertragsärzte von 20 auf 25 Stunden im TSVG, die eine Vereinbarung zwischen Kassenärzten und Krankenkassen im Bundesmantelvertrag aushebelt. „Musste das wirklich sein?“, fragte der BÄK-Präsident. „Dient das wirklich der Versorgung oder werden damit Scheinprobleme adressiert?“
Im selben Atemzug kritisierte Montgomery den „enteignungsgleichen“ Eingriff in die Besitzverhältnisse der Gesellschaft für Telematikanwendungen im Gesundheitswesen (gematik). Er bezweifele, dass das BMG die Digitalisierung erfolgreicher vorantreiben werde als die Selbstverwaltung. Das Kernproblem sei nicht die Gesellschaftsstruktur der gematik, sondern dass die gesetzlichen Vorgaben aus dem Jahr 2004 die „Quadratur des Kreises“ verlangten. „Wir haben ein unterschiedliches Verhältnis zur Selbstverwaltung“, sagte der BÄK-Präsident an Minister Spahn gewandt. „Ich bin – trotz mancher Probleme – von ihr zutiefst überzeugt.“
Deutliche Meinungsverschiedenheiten
Beim Thema Professionalität des Arztberufes klafften die Vorstellungen von Ärzteschaft und Ministerium ebenfalls auseinander. Die Ärzte klagten zu Recht über zu viel Arbeit, zu wenige Kollegen, dauernde zeitliche Überforderung, Burnout und mehr – ein eigener Tagesordnungspunkt beim diesjährigen Deutschen Ärztetag.
Doch statt die Zahl der Ärzte zu erhöhen und schnellstmöglich mehr Medizinstudienplätze zu schaffen, kreiere der Minister neue Gesundheitsberufe oder weite das Tätigkeitsspektrum bestehender Gesundheitsberufe aus. Das untergrabe die Professionalität des Arztberufs, kritisierte Montgomery. „Patienten haben in einem hochentwickelten Gesundheitswesen vor allem ein Anrecht auf gut ausgebildete und hochqualifizierte Ärztinnen und Ärzte“, so der BÄK-Präsident.
Unnötige Reform zur Psychotherapeutenausbildung
Beispiel für diese Deprofessionalisierung sei das „völlig überflüssige“ Gesetz zur Installierung einer eigenen, grundständigen Psychotherapeutenausbildung, bei der die angehenden Psychotherapeuten nach einem Bachelor- und Masterstudium analog zu den Ärzten eine Weiterbildung zum Psychotherapeuten absolvieren.
„Angeblich geht es dabei nur um die Ausbildung“, sagte Montgomery. „In Wahrheit aber soll die gesamte Psychotherapie aus der Medizin herausgelöst und zu einem eigenen Beruf erhoben werden.“ Dabei sei die Psychotherapie eine ärztliche Technik, die noch immer sehr viel mehr Ärzte als psychologische Psychotherapeuten ausübten. Dass die Absolventen des Bachelor- und Masterstudiengangs sich künftig „Psychotherapeuten“ und die Ärzte sich „ärztliche Psychotherapeuten“ nennen dürften, sei ein grandioser Etikettenschwindel.
Ähnliches gelte für das Hebammengesetz. „Die Probleme, die wir heute im Beruf haben, lösen wir nicht durch Akademisierung, sondern nur durch mehr praktische Ausbildung, klare Haftungsregelungen und klare Verantwortungen“, erklärte Montgomery. Frauen in Schwangerschaft und Stillzeit benötigten praktische Hilfe nicht theoretische Unterweisung.
Länder sind am Zug
Neben der Bundesebene forderte Montgomery auch die Länder auf, ihre gesundheitspolitische Verantwortung wahrzunehmen. Seit 20 Jahren kämen die Länder ihren Investitionsverpflichtungen für die Krankenhäuser nicht nach. Die Folge: marode Bausubstanz, veraltete Geräte und in vielen Kliniken eine elektronische Infrastruktur, die diesen Namen nicht verdiene. „Die Investitionslücke wird auf 3,7 Milliarden Euro jährlich beziffert“, sagte Montgomery. Es sei jetzt wirklich an der Zeit, dass die Länder sich vom Bund auf ein tragfähiges Investitionsmodell verpflichten ließen.
Neben aller Kritik hob Montgomery aber auch Gemeinsamkeiten hervor. Er lobte Spahns Einsatz für die Widerspruchslösung bei der Organspende. Auch der Deutsche Ärztetag habe sich ausdrücklich für eine solche Lösung ausgesprochen. Montgomery appellierte an die Abgeordneten des Bundestages, die Menschen jetzt nicht durch „kleinkarierte pseudoethische Debatten“ zu verunsichern. Mit dem Organspendegesetz, das am 1. April in Kraft trat und das die strukturellen und finanziellen Rahmenbedingungen der Transplantation in den Krankenhäusern verbessere, habe man wahrscheinlich bereits einen „riesigen Fortschritt für die Menschen auf der Warteliste erreicht“.
Harsche Worte von Windhorst
Hart ins Gericht mit der Politik ging der Präsident der gastgebenden Ärztekammer Westfalen-Lippe, Theodor Windhorst. Er erinnerte an den Ärztetag im Jahr 2007, der ebenfalls in Münster stattgefunden hatte und zitierte den damaligen Bundesärztekammerpräsidenten Jörg-Dietrich Hoppe.

Dieser hatte gegenüber der damals amtierenden Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) die Entstaatlichung der Daseinsvorsorge und der Daseinsfürsorge sowie die Verstaatlichung der Versorgungsprozeduren beklagt. „Es ist genau das eingetreten“, sagte Windhorst heute in Münster. „Wir werden in die Staatsmedizin geführt, wir haben die Gesundheitswirtschaft mit Ökonomisierung und Industrialisierung der Medizin.“
Dabei sei die Freiberuflichkeit unverzichtbare Grundlage und „Markenkern“ der ärztlichen Profession. „Wir müssen in der Patientenversorgung unabhängig und eigenverantwortlich freie Entscheidungen treffen können, und zwar nach fachlich-medizinischen Gesichtspunkten, die in erster Linie das Wohl des Patienten im Blick haben. Darauf muss der Patient vertrauen können“, sagte Windhorst.
Allein in den vergangenen zwölf Jahren seien auf Bundesebene 146 das Gesundheitswesen betreffende Gesetze und Verordnungen erlassen worden – ohne die Wirkung vorausgegangener Gesetze abzuwarten, ohne Evaluation, ohne verlässliche Langfristperspektive, erklärte der Präsident der Ärztekammer Westfalen-Lippe.
Für die Patientenversorgung habe diese Gesetzesflut nichts gebracht. Sie werde auch angesichts des Mangels an Ärzten und anderer Gesundheitsberufe immer schwieriger. „Ich fordere deshalb von Ihnen dringend eine Kursänderung“, appellierte Windhorst an den Bundesgesundheitsminister: „Statt Staatsmedizin wieder ein freiheitliches, selbstverwaltetes Gesundheitswesen.“
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