Politik

Kranken- und Pfle­ge­versicherung „in ihrer jetzigen Form“ nicht mehr finanzierbar

  • Mittwoch, 20. März 2024
Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP)/picture alliance, Flashpic, Jens Krick
Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP)/picture alliance, Flashpic, Jens Krick

Berlin – Für Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) ist die aktuelle Ausgestaltung der Renten-, Kran­ken- und Pflegeversicherung „in ihrer jetzigen Form“ langfristig nicht finanzierbar. Das verdeutlichte er im Rahmen der Vorstellung des Sechsten Berichts zur Tragfähigkeit der Öffentlichen Finanzen. Den Report hatte das Bundesfinanzministerium heute hat dem Bundeskabinett vorgelegt.

Lindner sagte, die Ergebnisse des Berichts seien ein „Appell an die Politik, Strukturreformen in allen relevan­ten Politikbereichen anzustoßen“. Bei der Rentenversicherung habe man mit dem Generationenkapital einen ersten Schritt gemacht. Nun sei man gefordert, auch in anderen Bereichen Reformen auf den Weg zu bringen. Details zur Kranken- und Pflegeversicherung nannte Lindner nicht.

In dem Bericht wird deutlich, dass die Alterung der Bevölkerung und der medizinische Fortschritt einen er­heb­lichen Anteil an den steigenden Kosten haben dürften. Die Größenordnung ist aber fraglich und aus Sicht des Ministeriums schwer abzuschätzen.

Die Auswirkung altersspezifischer Krankheitsrisiken bei steigender Lebenserwartung („gesundes Altern“ versus „Medikalisierung“) und des medizin-technischen Fortschritts auf die zukünftigen Gesundheitsausgaben sind mit großer Unsicherheit behaftet“, schreibt das Ministerium dazu.

Daher konzentrierten sich die Berechnungen der Ausgaben für die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) für die Basisvarianten im Gutachten auf Ef­fekte, die sich aus der verändernden Altersstruktur der Versicherten ergäben.

Insbesondere ein stärker voran­schreitender medizin-technischer Fortschritt berge jedoch das Risiko einer wei­teren Steigerung der Gesund­heitsausgaben, abseits der dargestellten Faktoren. Je nach Stärke der Kosten­wirkungen des medizin-techni­schen Fortschritts stelle dieser somit ein zusätzliches Risiko für die Tragfähig­keit dar.

Auf Basis der Projektionen prognostizieren die Fachleute mittelfristig steigende Ausgaben. „In der pessimis­ti­schen Variante T- mit einer ungünstigen Entwicklung der Erwerbsbevölkerung steigen die Ausgaben der GKV bis 2070 auf 10,0 Prozent, in der optimistischen Variante T+ dagegen nur auf 8,2 Prozent des Bruttoinlands­produkts (BIP)“, heißt es in dem Bericht.

In der Pflegeversicherung spricht das Ministerium bei der aktuellen Mittelfristprojektion von steigenden Aus­gaben in Höhe von 1,7 Prozent bis 2027. In der langen Frist bis 2070 erhöhten sich die Ausgaben in Relation zum BIP auf 3,2 Prozent in T-, in T+ auf 2,3 Prozent des BIP.

Lindner warnte heute insgesamt vor einem langfristig drastischen Anstieg der Staatsverschul­dung. Durch ein Zusammenwir­ken von konjunktureller Schwäche und der fortschreitenden Alterung der Be­völkerung könne sich die ge­samtstaatliche Verschuldung bis 2070 auf 345 Prozent des Bruttoinlandsprodukts vervielfachen, heißt es in dem aktuellen Tragfähigkeitsbericht.

Ein derartiger Anstieg sei „in einem ungünstigen Szenario“ zu erwarten. In einem „günstigen Szenario“ könnte die Staatsverschuldung von aktuell 64 Prozent auf 140 Prozent des Bruttoinlandsprodukts anwachsen. Das Haushaltsdefizit könnte bis 2070 unter günstigen Bedingungen auf 2,67 Prozent des Bruttoinlandspro­dukts steigen, unter ungünstigen Bedingungen auf 6,93 Prozent.

Der FDP-Haushaltsexperte Christoph Meyer rief die Koalitionspartner zu Reformbereitschaft auf. „Der Tragfä­hig­keitsbericht zeigt, ohne starkes Wirtschaftswachstum ist der üppige Sozialstaat zukünftig nicht mehr finan­zierbar“, erklärte er.

Mit dem Bericht zur Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen, dem so genannten Tragfähigkeitsbericht, infor­miert das Bundesfinanzministerium über die langfristige Entwicklung der öffentlichen Finanzen – in der Re­gel einmal pro Legislaturperiode. Der letzte Bericht wurde 2020 vorgelegt. Die Prognose soll laut Ministerium ein „wichtiger Frühwarnmechanismus für eine vorausschauende Finanzpolitik“ sein.

Der Schwerpunkt im Bericht 2024 liegt auf den demografischen Herausforderungen, denen die öffentlichen Finanzen in Zukunft gegenüberstehen. „Wir sehen bereits jetzt, dass ein Rückgang der Bevölkerung im Er­werbsalter mit einem Anstieg der Bevölkerung im Ruhestand einhergeht“, heißt es in dem Papier.

Entsprechend würden die demografiebedingten Ausgaben des Staats steigen – unter „ungünstigen Bedingun­gen“ von 27,3 Prozent des Bruttoinlandsproduktes im Jahr 2022 auf 36,1 Prozent im Jahr 2070. Unter „günsti­gen Bedingungen“ ließe sich der Anstieg auf 30,8 Prozent des Bruttoinlandsproduktes im Jahr 2070 begren­zen.

Insbesondere eine höhere Zuwanderung und eine niedrigere Erwerbslosigkeit würden sich „günstig auf die langfristige Tragfähigkeit“ der Staatsfinanzen auswirken, schreibt das Bundesfinanzministerium. Ebenfalls günstige Effekte hätten eine stärker steigende Erwerbsbeteiligung von älteren Menschen sowie ein stärkerer Anstieg der Erwerbsbeteiligung von Frauen.

In dem Bericht gibt das Ministerium eine Prognose zur Entwicklung der Beschäftigtenzahl ab, die in Ost- und Westdeutschland sehr unterschiedlich ausfallen dürfte. Bei „moderater Entwicklung von Geburtenhäufigkeit, Lebenserwartung und Nettozuwanderung“ würde die Zahl der Erwerbspersonen im Zeitraum zwischen 2022 bis 2070 bundesweit um zwölf Prozent abnehmen – in den westdeutschen Flächenländern um elf Prozent und in den ostdeutschen Flächenländern um 21 Prozent.

Berlin wäre demnach das einzige Bundesland, das im Gesamtzeitraum bis 2070 an Erwerbspersonen gewin­nen dürfte (plus fünf Prozent). Das Ministerium weist allerdings darauf hin, dass diese Vorhersagen mit großer Unsicherheit behaftet seien.

may/afp

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