„Die meisten CO2-Emissionen können durch die Vermeidung unnötiger Aktivitäten eingespart werden“
Potsdam – Im Auftrag des Bundesgesundheitsministeriums (BMG) hat Peter-Paul Pichler vom Potsdam Institut für Klimafolgenforschung (PIK) errechnet, wie hoch die Treibhausgasemissionen des deutschen Gesundheitswesens sind. Diese Erhebung kann als wissenschaftliche Grundlage für die Forderung des Deutschen Ärztetages dienen, das Gesundheitswesen bis 2030 klimaneutral auszugestalten.
Im Gespräch mit dem Deutschen Ärzteblatt (DÄ) erklärt Pichler, wie hoch die Emissionen des Systems sind, ob die Forderung des Ärztetages umsetzbar ist und was Ärztinnen und Ärzte tun können, um die Emissionen des Systems zu senken.

Fünf Fragen an Peter-Paul Pichler, Potsdam Institut für Klimafolgenforschung
Herr Pichler, welches sind die zentralen Ergebnisse Ihres Projekts „Evidenzbasis Treibhausgasemissionen des deutschen Gesundheitswesens“?
Ziel des Projekts war es, eine umfassende Treibhausgasbilanz für den deutschen Gesundheitssektor zu erstellen. Diese Bilanz kann als Grundlage für eine nationale Klimaschutzstrategie im Gesundheitssektor dienen. Nimmt man alle Treibhausgase zusammen und macht sie in ihrer Wirkung mit CO2 vergleichbar, so verursachten die Aktivitäten des deutschen Gesundheitswesens im Jahr 2019 rund 68 Millionen Tonnen CO2-Äquivalente beziehungsweise sechs Prozent des deutschen Treibhausgasfußabdrucks. Der prozentuale Anteil ist zuletzt leicht gestiegen, da die Emissionen des Gesundheitswesens seit 2008 entgegen dem Bundestrend nicht gesunken sind.
Die meisten Emissionen entstehen beim Betrieb von stationären und teilstationären Einrichtungen, gefolgt von ambulanten Einrichtungen und dem medizinischen Handel, der zum Beispiel die Apotheken umfasst. Rund 90 Prozent aller Emissionen entstehen nicht in den Einrichtungen selbst, sondern an anderer Stelle in der nationalen und internationalen Vorleistungskette durch den Einkauf von Energie, Gütern und Dienstleistungen.
Aufgeteilt nach den Scopes des Greenhouse Gas Protocols entfallen circa zehn Prozent auf Scope 1 – also auf die direkten Emissionen der Einrichtungen –, weitere zehn Prozent auf Scope 2 – die Emissionen, die durch eingekaufte Energie entstehen – und 80 Prozent auf Scope 3 – also auf den Einkauf von sonstigen Gütern und Dienstleistungen wie zum Beispiel Arzneimittel oder Medizinprodukte.
Der Deutsche Ärztetag hat im Jahr 2021 dazu aufgerufen, das deutsche Gesundheitswesen bis zum Jahr 2030 klimaneutral zu gestalten. Ist das aus Ihrer Sicht möglich?
Es ist sehr schwierig, diese Frage seriös zu beantworten. Grundsätzlich ist dieser Beschluss natürlich sehr zu begrüßen. Neben den konkreten Beschlüssen zum Klimaschutz sind aber auch andere Beschlüsse desselben Ärztetages aus Sicht des Klimaschutzes sehr interessant. So beschäftigt sich eine Reihe von Beschlüssen mit dem Themenkomplex patientenzentrierte statt renditeorientierte Gesundheitsversorgung. Schaut man sich diese Beschlüsse an, so stellt man fest, dass zumindest die medizinischen Interessen der Ärzteschaft in weiten Teilen mit den Notwendigkeiten des Klimaschutzes übereinstimmen.
So wird kritisiert, dass das derzeitige System die interventionelle und invasive Medizin mit ihrem hohen Einsatz an apparativer Diagnostik und Medikamenten fördert, während präventive oder weniger materialintensive Ansätze nicht honoriert werden. Insgesamt wird an vielen Stellen deutlich, dass die zunehmende Renditeorientierung des Gesundheitswesens oft zulasten von Beschäftigten und Patienten geht. Hier liegt ein gemeinsamer Ansatzpunkt für eine ernsthafte Klimaschutzpolitik, denn in fast allen Fällen wären die dort geforderten Systemveränderungen zugleich Klimaschutzmaßnahmen.
Aber zurück zu Ihrer Frage: Die beiden Wörter, die die Beantwortung der Frage schwierig machen, sind „möglich“ und „klimaneutral“. Klimaneutral ist ein Begriff, der für verschiedene Akteure sehr unterschiedliche Bedeutungen haben kann. Welche Emissionen werden dabei berücksichtigt? Wie bereits erwähnt, machen Scope-1 und -2-Emissionen nur 20 Prozent des gesamten Treibhausgasfußabdrucks aus. Werden diese Emissionen tatsächlich vermieden oder verlässt man sich auf umstrittene Kompensationsmechanismen?
Je nachdem, wie der Begriff „Klimaneutralität“ interpretiert wird, ist es also einfacher oder schwieriger, ein solches Ziel zu erreichen. Für einen effektiven Klimaschutz muss der Gesundheitssektor so schnell wie möglich über alle Scopes und praktisch ohne Kompensationen null Emissionen erreichen. Emissionen im Gesundheitssektor sind fast ausschließlich Emissionen aus der Nutzung fossiler Brennstoffe. Es mag einige Prozessemissionen in der chemischen Industrie geben, die weniger leicht zu vermeiden sind. Hier müssen, wie bei den Anästhesiegasen, Alternativen gefunden werden.
Ist das also möglich? Technisch und theoretisch wahrscheinlich ja, obwohl es bis 2030 nur noch sechs Jahre sind. Politisch und praktisch ist es im Moment leider sehr unwahrscheinlich. Dafür gibt es aus meiner Sicht mehrere Gründe. Zum einen führen einige Entwicklungen wie der demografische Wandel und die Klimakrise selbst zu einer steigenden Nachfrage im Gesundheitssektor, was zunächst einmal zu höheren Emissionen führt. Aber auch ohne diese zusätzlichen Herausforderungen bin ich derzeit nicht besonders optimistisch. Die Vermeidung von Scope-1 und -2-Emissionen erfordert sehr hohe Investitionen in thermische Sanierungen und den Austausch von Energiesystemen.
Wer müsste die Investitionen vornehmen?
Die Investitionen können derzeit nicht vom in vielen Bereichen unterfinanzierten Gesundheitssektor selbst geleistet werden. Zudem hat die deutsche Politik in den letzten Jahrzehnten Investitionen in eine zukunftsfähige Infrastruktur großflächig verweigert. Und die aktuellen Diskussionen lassen nicht erwarten, dass sich dies schnell ändern wird. Bei den Emissionen aus der Vorleistungskette – den Scope-3-Emissionen – wird der Gesundheitssektor teilweise von den Fortschritten der Energiewende profitieren, indem die Emissionsintensität der Produktion in Deutschland und anderswo sinkt.
Welche Maßnahmen müsste die Politik jetzt einleiten, damit das deutsche Gesundheitssystem bis 2030 klimaneutral wird?
In der Hierarchie der Emissionsminderungen steht die Vermeidung unnötiger Aktivitäten an erster Stelle. Das erste Ziel des Klimaschutzes im Gesundheitsbereich sollte daher eine gesündere Bevölkerung sein, die weniger Gesundheitsleistungen in Anspruch nimmt. Klima- und Gesundheitsschutz gehen zum Beispiel bei Ernährung und Mobilität Hand in Hand. Aber auch die sozialen Determinanten von Gesundheit sind hier ein wichtiger Hebel, da zum Beispiel ökonomische Ungleichheit Klimaschutz erschwert.
Auch sollten die Rahmenbedingungen so verändert werden, dass aus medizinischer Sicht unnötige oder gar schädliche Behandlungen vermieden werden. Eine solche Nachfragereduktion erleichtert es erheblich, die Umweltauswirkungen einer angemessenen Versorgung zu minimieren. All dies mag auf den ersten Blick wenig kontrovers erscheinen, würde aber ein tiefgreifendes gesellschaftliches Umdenken erfordern – nicht zuletzt, weil dem zumeist die bereits erwähnten Profitinteressen und manchmal auch die Erwartungen der Patientinnen und Patienten entgegenstehen.
Viele Maßnahmen zur Minimierung der Umweltauswirkungen einer angemessenen Gesundheitsversorgung sind seit langem bekannt. Durch eine zügige Umsetzung der Wärme- und Energiewende innerhalb und außerhalb des Gesundheitssektors könnte zumindest der nationale Anteil, also rund 50 Prozent des Treibhausgasfußabdrucks, vermieden werden. Eine weitere konkrete Forderung des Ärztetages ist die Verankerung des Klimaschutzes im Wirtschaftlichkeitsgebot. So könnte erreicht werden, dass neue klinische Behandlungspfade entwickelt und angewendet werden, die auch die Klimaauswirkungen berücksichtigen.
Die Transformation zu einem nachhaltigen Gesundheitssystem ist eine große Herausforderung. Es gibt jedoch bereits zahlreiche Initiativen und Netzwerke in Deutschland und international, die konkrete Pläne und Maßnahmen zur Umsetzung erarbeiten. Gleichzeitig muss in Deutschland die Umweltberichterstattung im Gesundheitswesen verbessert werden, um den Fortschritt dieser Transformation messen zu können.
Was können Ärztinnen und Ärzte tun, um ihren Beitrag zu einem klimaneutralen Gesundheitswesen zu leisten?
Nach meiner Erfahrung gibt es besonders in den größeren Einrichtungen in Deutschland sehr viele sehr engagierte Ärztinnen, Ärzte und andere Beschäftigte. Vielerorts gibt es bereits Umwelt- oder Klimaschutzbeauftragte, die für die jeweiligen Häuser die dringendsten Maßnahmen evaluieren. Diese Stellen müssen gestärkt werden, um echte Gestaltungsmöglichkeiten zu erhalten.
Netzwerke wie die Deutsche Allianz für Klima und Gesundheit bieten Informationen und Unterstützung für alle, die sich in diesem Bereich engagieren wollen. Dies beinhaltet für Ärztinnen und Ärzte, bewusste Veränderungen ihrer medizinischen Praxis sowie Hilfestellungen zur Thematisierung von klimaschützendem Verhalten im Gespräch mit den Patienten. Wichtig ist auch die Auseinandersetzung mit dem Thema in den Berufsverbänden, von denen viele bereits eigene Leitlinien zum Klimaschutz in den verschiedenen Bereichen der ärztlichen Praxis haben.
Im Kern ist Klimaschutz aber eine zivilgesellschaftliche Herausforderung, die einer politischen Antwort bedarf. Derzeit ist der Druck der Zivilgesellschaft viel zu gering, solche Veränderungen gegen die Beharrungskräfte des Status quo durchzusetzen. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass die Politik nur kleine Schritte gehen kann.
Ärztinnen, Ärzte und alle anderen Beschäftigten des Gesundheitswesens besitzen bei der Bevölkerung großes Vertrauen. Der wichtigste, wenn auch vielleicht anstrengendste Beitrag der Ärzteschaft zum Klimaschutz im Gesundheitswesen und insgesamt wäre es wohl, die Forderungen des Ärztetages lauter und öffentlicher zu artikulieren und dafür breitere zivilgesellschaftliche Bündnisse zu schließen.
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