Steinmeier: „Wer in Armut aufwächst, hat als Erwachsener schlechtere Gesundheit“

Berlin – Die gesundheitliche Ungleichheit in Deutschland ist eine Herausforderung für den Sozialstaat und beeinflusst den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Das betonte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) heute bei der Eröffnung des Kongresses Armut und Gesundheit.
Die Ungleichheit berühre nicht nur das Gerechtigkeitsempfinden, sondern auch den Zusammenhalt von Gesellschaft und damit die Grundlage und Voraussetzung für eine gelingende Demokratie, sagte Steinmeier. Damit auch die Demokratie stabil bleibe, müsse Deutschland ein soziales Land bleiben.
Verglichen mit anderen Regionen der Welt gehe es den Menschen in Deutschland im Durchschnitt zwar gut. Problem sei aber, dass viele nicht sehen wollen würden, dass es einigen auch schlechter gehe, so der Bundespräsident. „Diese Armut ist sichtbar, und das nicht nur an Tafeln oder in Obdachloseneinrichtungen. Sie ist sichtbar in Regionen, die abgehängt sind, in vernachlässigten Stadtteilen und oft schon in Kindergärten und Grundschulen“, sagte Steinmeier.
In sozial schwächeren Gegenden hätten vierzig Prozent der Kinder im Kita-Alter schiefe Zähne, fortgeschrittene Karieserkrankungen“, sagte er. Das seien in aller Regel erste Anzeichen für die Erkenntnis: „Wer in Armut aufwächst, hat als Erwachsener schlechtere Gesundheit.“ Zudem sei die Sterblichkeit etwa aufgrund von Krebs- oder Lebererkrankungen bei Menschen höher, die einem Armutsrisiko ausgesetzt seien.
Steinmeier begrüßte, dass Public Health oder auch Sozialmedizin heute mehr Aufmerksamkeit erhalte und damit ein gesteigertes Interesse zu beobachten sei. In diesem Zuge dankte er den Beschäftigten und Ehrenamtlichen in der Gesundheitsversorgung für ihre Arbeit.
„Was Sie tun, das darf uns nicht aus dem Blick geraten in Zeiten, in denen der Krieg auch die politischen Prioritäten neu ordnet, in Zeiten, in denen Investitionen zum Schutz unseres Planeten immer drängender werden“, sagte der Bundespräsident. Unser Sozialstaat müsse stark und leistungsfähig bleiben. „Sozialpolitik ist Demokratiepolitik.“
Thema noch nicht ausreichend in der Politik angekommen
Der Sozialmediziner Gerhard Trabert kritisierte heute hingegen, dass Armut und ihre Auswirkungen, insbesondere auf den Gesundheitszustand, als eine Realität in Deutschland immer noch nicht wirklich bei den politischen Entscheidungsträgern angekommen sei.
„Gerade in den letzten Jahren hat Armut wieder zugenommen und dies liegt insbesondere an gesellschaftlichen Unrechtsstrukturen, Partizipationsbenachteiligungen und unsozialen finanziellen Verteilungsregelungen“, so Trabert, der vergangenes Jahr für das Amt des Bundespräsidenten angetreten ist.
Armut mache krank und Krankheit mache arm und das dürfe in den bestehenden Dimensionen nicht akzeptiert werden. „Armutsbekämpfung muss zu einem politischen Querschnittsthema werden“, forderte Trabert.
Er stellte sieben Punkte insbesondere an Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) auf. Darunter stellte er erneut die Forderung auf, eine ressortübergreifende Arbeitsgruppe Armut und Gesundheit beim Bundesgesundheitsministerium (BMG) zu errichten, die sich mit diesen Themen stärker beschäftigt.
Weiter sei eine bundesweite Einführung von Clearingstellen mit einem Fonds für Behandlungen nötig. Zudem forderte Trabert eine entsprechende Erhöhung des Bürgergelds, insbesondere im Bereich der Ernährung. „Von 3,48 Euro pro Tag kann man kein Kind gesund ernähren“, sagte Trabert.
Übernahme von Brillen und Fahrten zum Kinderarzt
Zudem müssten Sehhilfen und Brillen wieder zur Regelleistung der Krankenkassen werden und Trabert forderte freie Fahrten zum Kinderarzt, insbesondere für Personen, die auf Sozialleistungen angewiesen sind.
Er kritisierte darüber hinaus, dass Geflüchtete in Deutschland medizinische Leistungen nur nach dem Asylbewerberleistungsgesetz bekämen, mit der Ausnahme von ukrainischen Geflüchteten. Demnach dürfen Geflüchtete nur bei akuten oder Schmerzuständen behandelte werden, ukrainische Geflüchtete wurden hingegen im vergangenen Sommer in die gesetzliche Krankenversicherung mit aufgenommen. Es dürfe aber keine Geflüchtete erster und zweiter Klasse geben, so Trabert. Außerdem pochte er auf die Abschaffung von befristeten Aufenthaltserlaubnissen.
„Die jüngsten Krisen – Pandemie, Krieg und dadurch bedingt auch die Inflation – haben die soziale Ungleichheit in Deutschland noch einmal verschärft. Die gesundheitlichen Folgen sind gerade auch in der Großstadt Berlin deutlich sichtbar“, sagte bei der Eröffnung des Kongresses der Berliner Staatssekretär für Gesundheit und Pflege, Thomas Götz (Grüne).
Er zeigte sich dankbar, dass der Kongress Armut und Gesundheit auch in diesem Jahr den Finger tief in die Wunde legt, auf die Probleme hinweist und darüber hinaus den Akteurinnen und Akteuren im Kampf für die gesundheitliche Chancengleichheit ein unvergleichliches Forum zur Vernetzung und zum Austausch bei der Entwicklung und Umsetzung der besten Lösungsansätze und Ideen biete.
„Der Zusammenhang zwischen sozioökonomischer und gesundheitlicher Ungleichheit ist für eine Vielzahl von Erkrankungen und Todesursachen nachgewiesen, insbesondere für nichtübertragbare Krankheiten wie Herz-Kreislauf- und chronische Atemwegserkrankungen“, erklärte Claudia Hövener, Leiterin des Fachgebiets Soziale Determinanten der Gesundheit am Robert-Koch-Institut.
Mit dem Beispiel der subjektiven psychischen Gesundheit bei Kindern und Jugendlichen, die seit 2022 im Rahmen der Studie „Kindergesundheit in Deutschland aktuell“ (KIDA) abgefragt wird, werden auch hier soziale Unterschiede deutlich. „Für Kinder und Jugendliche aus sozial bessergestellten Familien wird die psychische Gesundheit besser eingeschätzt“, sagte Hövener.
Die Brandenburger Gesundheitsministerin Ursula Nonnemacher (Grüne) betonte, wie wichtig es sei, eine solide Datenbasis zu schaffen, als Grundlage für bedarfsorientiert entwickelte Aktivitäten und Maßnahmen.
„Viele unterstützende Strukturen und Angebote sind vorhanden, ebenso kompetente und engagierte Akteure. Wir müssen nicht viel neu erfinden, sondern vor allem gemeinsam und klug die vorhandenen Ansätze vor Ort im Rahmen einer ressortübergreifenden integrierten Strategie stärken und weiterentwickeln“, so Nonnemacher.
Der Kongress Armut und Gesundheit wird seit 1995 jährlich vom Verein Gesundheit Berlin-Brandenburg veranstaltet. Mitveranstalter sind die Deutsche Gesellschaft für Public Health (DGPH), die Berlin School of Public Health (BSPH) und die Freie Universität Berlin.
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