Politik

Das Gesundheitswesen muss sich besser auf Krieg, Terror und Katastrophen vorbereiten

  • Freitag, 15. März 2024
/Curioso.Photography, stock.adobe.com
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Berlin – Das deutsche Gesundheitswesen ist zwar rechtlich und regulatorisch gut für mögliche schwere Krisen wie große Terroranschläge oder kriegerische Auseinandersetzungen vorbereitet, muss sich aber besser als bisher koordinieren und vor allem auf den Ernstfall vorbereiten. Diese Auffassung dominierte eine Fachtagung zur Sicherheit der Kritischen Infrastruktur, die der Verband Gesundheitsstadt Berlin gestern ebendort abhielt.

Die geopolitische Lage hat sich in den vergangenen beiden Jahren aus deutscher Sicht massiv verschlechtert. Mit dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine über den eskalierten Nahostkonflikt nach dem terroristischen Massaker der Hamas in Israel bis hin zu Aufrüstung und Kriegsdrohungen der Volksrepublik China ist nicht nur die Zahl der Krisenherde gestiegen. Die deutsche Politik und Gesellschaft muss sich auf eine Situation einstellen, die sie zuvor seit Ende des Kalten Krieges mehrheitlich nicht gesehen und zum Teil ignoriert hat.

Das habe man in den vergangenen Jahren schlicht „nicht auf dem Schirm gehabt“, räumte Peter Bobbert, Präsident der Ärztekammer Berlin (ÄKB), ein. Man habe sich zwar auf Naturkatastrophen oder Kriminalität eingestellt, nicht jedoch auf kriegerische Konflikte oder feindliche Mächte. „Jetzt merken wir, wie fatal eine solche Entwicklung war. Wir sind nicht gut vorbereitet.“

Das zu ändern, sei eine gesamtstaatliche Aufgabe, erklärte Generaloberstabsarzt Ulrich Baumgärtner, Inspekteur des Sanitätsdienstes der Bundeswehr und damit höchster Sanitätsoffizier in Deutschland: „Wenn wir uns auf einen kriegerischen Angriff auf die NATO vorbereiten müssen, kann das nicht spurlos an unserer Gesellschaft vorbeigehen.“

Baumgärtner sieht auch die Politik in der Pflicht: Es brauche ein Gesundheitssicherstellungsgesetz, das Zuständigkeiten und Verfahren im Kriegsfall oder sogenannten Großschadenslagen, also Massenanfällen von Verletzten, beispielsweise durch Terrorangriffe, regelt. „Es ist unglaublich, dass wir so etwas nicht einmal im Kalten Krieg hatten“, kritisierte er.

„Hausaufgaben selbst machen“

Mit seiner Forderung nach gesetzlichen Nachbesserungen stand Baumgärtner jedoch allein. „Wir müssen unsere Hausaufgaben selbst machen, statt auf die Politik zu schauen und zu fragen, was wir machen sollen“, sagte Simon Batt-Nauerz, Leiter des Geschäftsbereichs Infrastruktur und Nachhaltigkeitsmanagement der Charité – Universitätsmedizin Berlin, die nach seiner Darstellung erst vor kurzem eine konkrete Risikoanalyse und Notfallplanung abgeschlossen habe. Gesetzliche Regularien könnten da höchstens begleitend wirken, beteuerte er.

Mit Regelwerken wie dem KRITIS-Dachgesetz und dem BSI-Gesetz sei Deutschland regulatorisch bereits gut genug aufgestellt, erklärte auch Jean Kolarow, der als Chief Security Officer der Berliner Wasserbetriebe für die Vorkehrungen verantwortlich ist, die Wasserversorgung der Hauptstadt selbst im Falle eines direkten Angriffs aufrechtzuerhalten.

Probleme seien eher in der Infrastruktur selbst zu sehen, sowohl technisch als auch personell, betonte André Solarek, Leiter der Stabsstelle Katastrophenschutz und Notfallrettung der Charité. Der Investitionsstau der vergangenen Jahrzehnte behindere auch die Umsetzung höherer Sicherheitsmaßnahmen in den Krankenhäusern. Forderungen nach Resilienz müsse hier auch eine entsprechende Finanzierung gegenüberstehen. „Da fragt man sich, ob wir aus der Pandemie nichts gelernt haben.“

Außerdem müssten derartige Sicherheitsthemen stärker als bisher in der ärztlichen Ausbildung verankert werden. „Ich glaube, dass die Themen, über die wir die vergangenen zwanzig, dreißig Jahre nicht geredet haben, wie Sicherheit oder taktische Medizin, in die Ausbildung müssen“, sagte er. „Da sehe ich die Fachgesellschaften in der Bringschuld.“

All das sind keine rein theoretischen Abwägungen, wie der stellvertretende Kommandeur des Kommandobereichs Territoriales Führungskommando der Bundeswehr, Generalmajor Andreas Henne, erklärte: „Der Terrorangriff auf unsere israelischen Freunde hat noch einmal deutlich gemacht, wie unerwartet ein kriegerischer Angriff erfolgen kann.“

Es herrsche kein Zweifel mehr daran, dass Deutschland bereits Ziel hybrider Kriegsführung seitens Russlands sei, von Desinformationskampagnen über Cyberangriffe und Sabotage bis hin zu Spionage. „Ausspähung erleben wir tagtäglich, besonders auf den Truppenübungsplätzen, wo Ukrainer ausgebildet werden“, erklärte er.

In diesem Bereich habe sich die Bundeswehr bereits gestrafft und beispielsweise eine Drohnenabwehr eingeführt. „Das sind keine Szenarien der Zukunft, sondern diese Dinge geschehen ständig und täglich, und zwar heute.“

Das bestätigte Martin C. Wolff, der als Leiter des Internationalen Clausewitz-Zentrums an der Führungsakademie der Bundeswehr als ziviler Wissenschaftler die Führungskader der Bundeswehr in Strategiefragen berät. „Die Ukraine ist nicht der eigentliche Kriegsgegner. Wir sind es: Deutschland als Drehscheibe der NATO auf dem europäischen Kontinent“, unterstrich er.

Neben der von Russland gesteuerten Polykrise in Europa spiele auch der Systemkonflikt mit China eine wachsende Rolle, und zwar nicht in Zukunft, sondern bereits jetzt. Aufgrund der weltpolitischen Lage sei in der Öffentlichkeit fast komplett untergegangen, dass die Volksrepublik erst vor wenigen Wochen „ihren Snowden-Moment“ hatte, als ein Datenleak die engen Verbindungen zwischen dem halbstaatlichen Sicherheitssektor und der staatlichen Hackerszene offenbarte.

Die geleakten Dokumente offenbaren hauptsächlich Kosten und Vorgehensweise von chinesischen Cyberangriffen auf andere asiatische Länder wie Thailand, Südkorea oder Taiwan, aber laut einem Bericht der Wochenzeitung Die Zeit auch auf europäische Ziele wie das britische Finanzministerium oder das International Institute for Strategic Studies (IISS).

Insbesondere mit Blick auf Krankenhäuser warnte Wolff davor, die Augen vor der Gefahrenlage zu verschließen. „Sie werden nicht früher oder später gehackt, Sie werden früher und später gehackt“, sagte er. Deshalb müsse man die eigenen Prioritäten bei Investitionsentscheidungen stets überdenken. „IT-Sicherheit ermöglicht Digitalisierung erst. Das ist kein Kostenfaktor, sondern macht erst möglich, dass man die angestrebten Effizienzgewinne mitnehmen kann.“

Auf den schlimmsten Fall vorbereiten

Politik und Gesellschaft müssten sich endlich bewusst werden, dass Europa seit Februar 2022 nicht mehr im Frieden lebt, und sich entsprechend selbst auf den schlimmsten Fall vorbereiten – freilich in der Hoffnung, dass er niemals eintreten wird, forderte auch Bundeswehrkommandeur Henne: „Wir müssen Pläne haben, wie wir unsere Verteidigung organisieren.“

Die Planungen müssten dabei bis hin zu dem Szenario reichen, dass eine Bündnisverteidigung an der NATO-Ostgrenze gescheitert ist und eine territoriale Landesverteidigung notwendig wird. Eine besondere Bedeutung komme bei alldem zu, dass die Verteidigung der kritischen Infrastruktur, speziell des Gesundheitswesens, nicht von der Bundeswehr allein geleistet werden könne.

Schon jetzt seien die Streitkräfte auf eine Vielzahl ziviler Partner und Kontraktoren angewiesen, da ihre eigenen logistischen Kapazitäten gar nicht ausreichend sind, um den eigenen Betrieb sicherzustellen.

Auch deshalb sei es absolut notwendig, entsprechende Netzwerke zu bilden, zu denen neben dem Sanitätswesen der Bundeswehr auch die stationären und ambulanten Gesundheitseinrichtungen gehören, aber auch die Polizei, das Technische Hilfswerk (THW) sowie andere staatliche und nicht-staatliche Akteure.

Teil der Vorbereitungen müsse es auch sein, sich strategische Fragen zu stellen – beispielsweise, wie schlau es ist, im Rahmen der Krankenhausstrukturreform Häuser zu schließen, nur weil sie nicht mehr rentabel sind. Gegebenenfalls könne es durchaus sinnvoll sein, diese für den schweren Krisenfall vorzuhalten.

„Wichtig ist, dass die zivilen Krankenhäuser in Deutschland wissen, dass sie im Verteidigungsfall auch dran sind, nicht nur als mögliche Ziele, sondern auch zur Versorgung ziviler und militärischer Opfer“, unterstrich Timo Ullrichs, Studiengangsleiter für internationale Not- und Katastrophenhilfe an der Akkon-Hochschule in Berlin. Es sei deshalb von höchster Bedeutung, jetzt schon entscheidende Fragen für den Ernstfall zu klären – beispielsweise, wer wo eingesetzt wird, oder wie verschiedene Träger zusammenarbeiten.

Insbesondere die Fragen von Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten müssten so eindeutig wie möglich vorab geklärt werden, um dann den Ernstfall so oft und so umfangreich wie irgend möglich zu üben. Verantwortungsdiffusion und unklare Zuständigkeiten seien nach wie vor die Grundprobleme in Deutschland und könnten im Krisen- oder Katastrophenfall verheerende Folgen haben.

Klare Strukturen in Israel

Welche enorme Bedeutung klaren Strukturen zukommt, hatte zuvor Elon Glassberg, Generalarzt und Kommandeur des Medizinkorps der Israelischen Verteidigungsstreitkräfte (IDF), verdeutlicht, als er von seiner Arbeit der vergangenen Monate und den strukturellen Aufbau der militärischen Gesundheitsversorgung der IDF berichtete.

Welche die Gründe für das verhängnisvolle Scheitern der Abwehr des Terrorangriffs am 7. Oktober sind, ist in Israel eine nach wie vor geführte innenpolitische Kontroverse. Der Teil des Militärs, der sich zweifelsohne bewährt habe, sei jedoch der Sanitätsdienst.

„Die Gesundheitsversorgung war das Einzige, was an diesem Tag funktioniert hat“, erklärte er. „Und das haben wir guten Vorbereitungen, Protokollen und einer gemeinsamen Sprache zu verdanken.“

Großschadenslagen wie der Terrorangriff auf Israel seien viel zu komplex, um Zuständigkeiten und Abläufe zu improvisieren, im Ernstfall müssten jede und jeder genau wissen, was zu tun ist und eindeutige Handlungsanweisungen verinnerlicht sein. „Wenn ein Verwundeter eingeliefert wird, kann man nicht erst über Funk erklären, was passiert ist und was genau gemacht werden muss“, betonte er. „Man muss sagen können ‚A7‘ und der Gegenüber weiß genau, was er zu tun hat.“

Auf organisatorischer Ebene sei es von entscheidender Bedeutung, klare und zentrale Kommandostrukturen zu haben. Israel habe dafür die Institution der Supreme Health Authority, ein Gremium aus dem Kommandeur des IDF-Medizinkorps, eines hohen Vertreters des Gesundheitsministeriums und dem Geschäftsführer des Gesundheitsdienstleisters Clalit.

Die Supreme Health Authority ist sowohl für die Krisenbereitschaft des Gesundheitssystems zuständig als auch für die Umsetzung der Maßnahmen im Ernstfall. In Israel komme noch hinzu, dass das Gesundheitswesen ohnehin von regulatorischer Seite stets für den Krisen- und Kriegsfall ausgelegt sei.

So unterhalte die IDF, anders als zum Beispiel die Bundeswehr, keine Militärkrankenhäuser. Jedes zivile Krankenhaus müsse stattdessen militärischen Vorgaben gerecht werden und beispielswiese bombensichere unterirdische Anlagen, Landezonen für Militärhubschrauber und Kapazitäten für einen kurzfristigen Anstieg der Patientenzahlen um 24 Prozent vorhalten. So habe allein das Soroka Medical Center in Beersheba – ein Krankenhaus mit rund 1.200 Betten – am 7. Oktober im Krisenmodus die Versorgung von 676 Verwundeten übernehmen können.

Neben systematischen und regelmäßigen Übungen sowie den daraus resultierenden Protokollen und Checklisten sei dies nur möglich, weil es klare Hierarchien und Kommandostrukturen gebe, die ein schnelles Handeln ermöglichen. „Sie brauchen eine Form von Autorität über das gesamte System“, riet Glassberg den Anwesenden. „Wenn unterschiedliche Akteure eigene Entscheidungen treffen, wird das nicht funktionieren.“

lau

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