Gesetz gegen Arzneimittelengpässe: Kassen sollen mehr zahlen müssen

Berlin – Das Bundesgesundheitsministerium (BMG) will den grassierenden Lieferengpässen bei generischen Arzneimitteln mit einer Preisgestaltungs- und Vergütungsreform begegnen. Das geht aus einem Eckpunktepapier für ein Lieferengpassgesetz hervor, das das BMG heute vorgelegt hat. Insbesondere bei Kinderarzneimitteln soll die Reform Abhilfe schaffen.
Inmitten einer öffentlichen Debatte über schwere Versorgungsprobleme in der Pädiatrie und sich verschlimmernde Engpässe bei Arzneimitteln hat das BMG heute ein Eckpunktepapier für ein Gesetz vorgelegt, das die Situation bereits kurzfristig entschärfen soll.
Mehr als 300 Lieferengpässe zählt das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) ausweislich seiner Lieferengpassdatenbank derzeit. 51 von ihnen – mit insgesamt 17 Wirkstoffen – bewertet es als kritisch für die Versorgung.
Betroffen sind in den vergangenen Monaten einige äußerst sensible Präparate, insbesondere in der Onkologie, wo beispielsweise der selektive Estrogenrezeptormodulator Tamoxifen in der Brustkrebstherapie oder aber auch Folinsäure in der zytotoxischen Therapie fehlen.
Jüngst waren neben der Lage in den Kinderkliniken vor allem die Engpässe bei Paracetamol- und Ibuprofen-haltigen Fiebersäften für Kinder in den Medien. Hierauf will Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) bei der Reform einen besonderen Schwerpunkt legen.
„Wir haben es mit der Ökonomisierung auch in der Arzneimittelversorgung mit patentfreien Medikamenten übertrieben“, erklärte er heute in Berlin. „Besonders bei Kinderarzneimitteln spüren wir die Konsequenzen gerade besonders hart. Dass man in Deutschland nur schwer einen Fiebersaft für sein Kind bekommt, der im Ausland noch erhältlich ist, ist inakzeptabel.“
Deshalb werde er die Preisgestaltung von Kinderarzneien „radikal ändern“, kündigte Lauterbach an. So sollen die Krankenkassen für Arzneimittel, die für die Sicherstellung der Versorgung von Kindern erforderlich sind, zukünftig keine Rabattverträge mehr abschließen dürfen. Außerdem sollen diese Medikamente nicht mehr in Festbetragsgruppen eingruppiert werden.
Festbeträge sind Höchstbeträge für die Erstattung von Arzneimitteln durch die Krankenkassen. Ist der Preis eines Arzneimittels höher, muss die Patientin oder der Patient in Apotheke zuzahlen. Diese Zuzahlung entfällt, wenn der tatsächliche Preis des Arzneimittels 30 Prozent unter dem Festpreis liegt.
Bestehende Festbeträge für Kinderarzneimittel sollen nun aufgehoben und das Preismoratorium für sie angepasst werden. Als neue Preisobergrenze soll das Anderthalbfache eines aktuell bestehenden Festbetrags oder – falls kein Festbetrag besteht – das Anderthalbfache des Preismoratoriums-Preises festgelegt werden.
Die Gesetzliche Krankenversicherung soll dafür künftig mehr Geld in die Hand nehmen müssen: Für versicherte Kinder bis zum vollendeten 12. Lebensjahr und für versicherte Jugendliche mit Entwicklungsstörungen bis zum vollendeten 18. Lebensjahr müssen die Kassen demnach die Mehrkosten von ärztlich verordneten Arzneimitteln bis zum anderthalbfachen Festbetrag bei einer Abgabe von Arzneimitteln über Festbetrag übernehmen.
Das solle nach Lauterbachs Willen möglichst umgehend der Fall sein: „Die Regelung für Kinder geht dahingehend sofort, dass ich die Krankenkassen angeschrieben habe und darum gebeten habe, dass tatsächlich dieser erhöhte Preis auch sofort bezahlt werden kann und bezahlt werden sollte“, erklärte Lauterbach heute in Berlin. „Somit ist das eine Regelung, bei der ich unmittelbare Wirkung erwarte.“
Auch könnten Ärzte bei der Verordnung nun die Genehmigung zur Herstellung von Rezepturen – vor allem bei Fiebersäften – erteilen, ohne Angst vor einer Wirtschaftlichkeitsprüfung zu haben. Weil sie die bisher haben mussten, würde in Deutschland viel zu wenige Apothekenrezepturen hergestellt.
Dieses „System der gegenseitigen Blockade“ löse er nun auf, erklärte Lauterbach: „Der Arzt ist nicht mehr in der Wirtschaftlichkeitsprüfung, wenn er dies dem Apotheker erlaubt. Dann hat der Apotheker die Rechtssicherheit, dass er es darf, und wenn er es macht, bekommt er es auch komplett bezahlt.“
Welche Arzneimittel genau für die Sicherstellung der Versorgung von Kindern erforderlich und entsprechend von den neuen Regelungen betroffen sind, soll der Beirat zu Liefer- und Versorgungsengpässen beim BfArM festlegen und dazu unter Berücksichtigung der Zulassung, des Anwendungsgebietes, der Darreichungsform und der Dosierung eine Liste erstellen.
Mit Ökonomisierung der Arzneimittelversorgung meinte Lauterbach auch das System der Rabattverträge, die die Krankenkassen mit den Pharmaunternehmen schließen. Experten sind sich weitgehend einig, dass der dadurch gestiegene Preisdruck zumindest einen wesentlichen Beitrag dazu geleistet hat, die Abhängigkeit von günstigen Produzenten – vor allem in Indien und China – zu erhöhen.
Zur Verringerung dieser Abhängigkeiten und Förderung des Produktionsstandorts EU will das BMG nun im Rahmen der Rabattvertragsausschreibungen eine Standortberücksichtigung vorschreiben: Den Kassen soll sozialgesetzlich eine verbindliche Ausschreibung eines zusätzlichen Loses bei jeder Ausschreibung für patentfreie Arzneimittel vorgegeben werden. Dieses Los vergeben die Kassen dann ergänzend zum Preis nach dem Zuschlagskriterium „Anteil der Wirkstoffproduktion in der EU“.
Diese Regelung soll sich zunächst nur auf Arzneimittel zur Behandlung onkologischer Erkrankungen und auf Antibiotika beziehen, aber zukünftig erweitert werden. Auch hier soll der BfArM-Beirat bei Bedarf weitere Wirkstoffe und Indikationen empfehlen und das BMG dann auf der Grundlage der Empfehlung des Beirats weitere Wirkstoffe oder Indikationen der neuen Regelung unterstellen.
Zur Verbesserung der Versorgungssicherheit soll außerdem für rabattierte Arzneimittel vertraglich eine mehrmonatige, versorgungsnahe Lagerhaltung vorgesehen werden.
Das System der Festbetragsgruppen soll auch jenseits von Kinderarzneimitteln reformiert werden, speziell in Gruppen mit wenigen Anbietern. Der BfArM-Beirat soll dann die Versorgungslage prüfen und kann bei einem sich abzeichnenden Versorgungsengpass die Empfehlung aussprechen, den Festbetrag auf das Anderthalbfache anzuheben oder die Festbetragsgruppe sogar aufzulösen.
In diesem Fall soll der Abgabepreis einmalig auf das Anderthalbfache des Festbetragspreises angehoben werden und den neuen Basispreis bilden. Die Regelungen des Preismoratoriums finden dann auf der Grundlage dieses neuen Basispreises Anwendung.
Auch die Grenze zur Zuzahlungsbefreiung bei Festbeträgen will Lauterbach anheben. Statt wie bisher bei 30 Prozent sollen Arzneimittel nun schon befreit werden können, wenn ihr Abgabepreis mindestens 20 Prozent unter dem Festbetrag liegt. „So wird dem Effekt eines zu starken Absinkens von Festbeträgen mit der eventuellen Folge von Marktaustritten vorgebeugt“, heißt es dazu im Eckpunktepapier.
Von der Zuzahlung befreit werden sollen auch Patienten, für die aufgrund von Liefer- oder Versorgungsengpässen Arzneimittel ausgeeinzelt werden. Außerdem soll die Zuzahlung bei Abgabe von Einzelpackungen auf die Zuzahlung des verordneten Arzneimittels begrenzt werden, wenn wegen Lieferengpässen eine größere Packung abgegeben werden muss.
Erleichterungen soll es auch für Apothekerinnen und Apotheker geben: Sie sollen es einfacher haben, fehlende Arzneimittel auszutauschen. Hat der BfArM-Beirat eine kritische Versorgungslage festgestellt, werden die vereinfachten Austauschregelungen gemäß der SARS-CoV-2-Arzneimittelversorgungsverordnung verstetigt. Damit erfüllt das BMG eine seit langem vom Bundesverband der Apothekerverbände (ABDA) regelmäßig wiederholte Forderung.
Außerdem erhalten die Apotheken ein neues Honorar: Tauschen sie Arzneimittel mit kritischer Versorgungslage aus und müssen dafür Rücksprache mit einem Arzt halten, erhalten sie dafür eine Aufwandspauschale von 50 Cent, die in der Arzneimittelpreisverordnung verankert werden soll.
„Die Discounter-Politik hat die Arzneimittelversorgung kontinuierlich über Jahrzehnte verschlechtert. Das zurückzudrehen, geht nicht über Nacht“, erklärte Lauterbach heute dazu. „Deswegen müssen wir bei Lieferengpässen den Apothekern helfen, ihren Kunden Alternativen anzubieten, wenn Medikamente nicht auf Lager sind.“
Damit all diese Regelungen künftig möglichst wenig Einsatz finden müssen, will das BMG auch die Lieferengpasssituation enger monitoren, um früher gegensteuern zu können. Dazu soll der BfArM-Beirat Kriterien für einen sich abzeichnenden Versorgungsengpass und eine drohende Marktverengung auf der Grundlage einer kontinuierlichen Marktbeobachtung bei versorgungskritischen Arzneimitteln entwickeln.
Das BfArM kann dann zukünftig Empfehlungen für Maßnahmen an das BMG übermitteln. Das wiederum kann auf Grundlage dieser Empfehlung weitere Wirkstoffe oder Indikationen den neuen Ausnahmeregelungen bei Festbeträgen, Rabattverträgen und bei der Apothekenabgabe unterstellen.
Um den Markt besser beobachten und drohende Versorgungsengpässe oder Marktverengungen besser erkennen zu können, soll das BfArM zusätzliche Informationsrechte gegenüber pharmazeutischen Unternehmen und Großhändlern erhalten. Das gelte insbesondere bezogen auf die aktuellen Produktionsmengen nach Produktionsstandort und auf die Lagerhaltung von Wirkstoffen, Zwischenprodukten und Fertigarzneimitteln.
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