Medizinstudium: Numerus clausus teilweise verfassungswidrig

Karlsruhe – Das Verfahren zur Vergabe von Studienplätzen im Fach Humanmedizin ist teilweise verfassungswidrig. Die beanstandeten Regelungen von Bund und Ländern verletzen den grundrechtlichen Anspruch der Studienplatzbewerber auf gleiche Teilhabe am staatlichen Studienangebot, entschied das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) heute in einem Urteil (Az. 1 BvL 3/14 und 4/14) in Karlsruhe.
Grundsätzlich sei die Vergabe nach den besten Abiturnoten, nach Wartezeit und nach einer Auswahl durch die Universitäten aber mit dem Grundgesetz zu vereinbaren. Die zentrale Vergabe der Studienplätze an Bewerber mit den besten Abiturnoten bezeichnete der Vorsitzende des 1. Senats, Ferdinand Kirchhof, als „sachgerecht“, solange die unterschiedliche Notenhöhe in den Ländern durch Landesquoten ausgeglichen werde.
Mängel bis Ende 2019 beheben
Diese Vergabe könne aber ihre „Berechtigung verlieren“, wenn nur noch die Stellen hinter dem Komma eines Einserabiturs über die Zuteilung eines Studienplatzes entscheiden. Es ist dem Urteil zufolge „verfassungswidrig“, dass der Gesetzgeber die Hochschulen nicht dazu verpflichtet hat, Studienplätze über die Abiturnote hinaus noch nach einem weiteren „eignungsrelevanten Kriterium“ zu vergeben. Bei der Studienplatzvergabe dürften etwa auch eine medizinnahe berufliche Qualifikation oder soziale Faktoren berücksichtigt werden.
Die Verfassungsrichter lassen dem Gesetzgeber bis Ende 2019 Zeit, die Mängel zu beheben. Bis dahin müsse die Zahl der Wartesemester, die aktuell etwa bei 15 liegt, enger begrenzt werden, entschied der 1. Senat unter Vorsitz von Ferdinand Kirchhof. Auch dürfe eine Festlegung auf höchstens sechs gewünschte Studienorte nicht dazu führen, dass ein Bewerber, der eigentlich erfolgreich wäre, am Ende leer ausgeht. Im Auswahlverfahren bei den Hochschulen müsse eine Vergleichbarkeit der Abiturnoten über Landesgrenzen hinweg sichergestellt werden. Auch dürfe hier die Abiturnote nicht das einzige Kriterium sein.
Das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen hatte in Karlsruhe zwei Fälle von Bewerbern aus Schleswig-Holstein und Hamburg vorgelegt, die keinen Studienplatz im Fach Humanmedizin bekommen hatten. Aktuell gibt es laut der zentralen Studienplatzvergabestelle Hochschulstart.de im Fach Humanmedizin rund 62.000 Bewerber (SS 2017 und WS 2018/2018) für rund 10.800 Studienplätze. Deshalb gilt ein Numerus clausus: 20 Prozent der Studienplätze werden zentral über die Abiturnote vergeben, 20 Prozent über Wartezeiten und 60 Prozent über unterschiedliche Kriterien der jeweiligen Hochschulen.
Der Vorstandsvorsitzende der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), Andreas Gassen, begrüßte das Urteil. „Es berücksichtigt, dass es neben einer guten Note – die weiterhin wichtig bleiben wird – auch weitere und andere Faktoren gibt, die zeigen, ob ein Studienplatzbewerber auch ein guter Arzt sein könnte“, sagte er. Bund und Länder seien nun aufgefordert, bis Ende 2019 einen entsprechenden Rahmen zu schaffen. „Die entsprechenden Faktoren müssen aufgenommen, Maßnahmen wie Bewerbergespräche verbindlich geregelt werden. Das macht das Auswahlverfahren natürlich aufwändiger – hier müssen die Länder den Hochschulen dann auch die notwendigen Ressourcen einräumen“, forderte Gassen.
Der Präsident der Bundesärztekammer (BÄK), Frank Ulrich Montgomery, nannte die Entscheidung „das richtige Signal zur richtigen Zeit“. „Das Urteil ist auch eine deutliche Aufforderung an Bund und Länder, bei der schleppenden Umsetzung der Reform des Medizinstudiums endlich Tempo zu machen“, sagte er. Das Urteil beinhalte aber auch eine heftige Ohrfeige für eine kleinstaatliche Bildungspolitik, die es nicht schaffe, das Abitur bundesweit chancengleich und chancengerecht zu gewährleisten. „Auch die Bildungspolitik muss hier nachbessern“, mahnte der BÄK-Präsident.
Für ein Assessment-Center und mehr Studienplätze
Montgomery zufolge hat das Gericht die Hochschulen verpflichtet, neben der Abiturnote obligatorisch ein weiteres, nicht notenbasiertes Zulassungskriterium anzuwenden, das bundeseinheitlich, strukturiert und standardisiert sein muss. „Damit hat das Gericht unseren Vorschlag, ein bundesweites Assessment durchzuführen, im Kern bestätigt“, sagte Montgomery. Patienten bräuchten nicht nur Spitzenforscher, sondern auch gute Ärzte mit sozialen Kompetenzen und der Bereitschaft, aufs Land zu gehen. Assessment-Center mit bundeseinheitlichen Kriterien könnten helfen, die fachlich und menschlich geeigneten Studierenden auszuwählen.
Montgomery wiederholte auch die Forderung der BÄK, die Zahl der Studienplätze nun dringend zu erhöhen. „Notwendig ist eine Erhöhung der Zahl der Studienplätze um mindestens zehn Prozent. Denn dass die Wartezeiten mittlerweile länger sind als das Studium selbst, kommt nicht von ungefähr“, sagte er.
Noch im Jahr 1990 gab es laut BÄK allein in den alten Bundesländern 12.000 Studienplätze in der Humanmedizin. Nach der Wiedervereinigung hätte die Zahl durch die zusätzlichen Fakultäten in den neuen Bundesländern sogar auf 16.000 Plätze steigen müssen, sie ist aber kontinuierlich geschrumpft – und das, obwohl Ärzte in Klinik und Praxis händeringend gesucht würden.
Chance für mehr junge Menschen
Martina Wenker, Präsidentin der Ärztekammer Niedersachsen und Vizepräsidentin der Bundesärztekammer, sieht in dem Urteil „vor allem für die zukünftigen Ärztegenerationen eine hervorragende Nachricht“. Durch ein geändertes Zulassungsverfahren würden viel mehr junge Menschen die Möglichkeit erhalten, sich für den Arztberuf zu qualifizieren, sagte sie. Mit der Entscheidung aus Karlsruhe stünden den Universitäten nun alle Möglichkeiten offen, gemeinsam ein neues Auswahlverfahren zu erarbeiten, das einen qualifizierten Vergleich zwischen Bewerbern aus unterschiedlichen Bundesländern möglich mache, einschlägige Berufserfahrungen mit einbeziehe und auch sozialen Komponenten wie Einfühlungsvermögen und Kommunikationsfähigkeit Raum biete.
Große Zustimmung kommt auch von der Landesärztekammer Rheinland-Pfalz. „Endlich wird es einheitliche Auswahlkriterien neben der Abiturnote geben“, stellte Landesärztekammerpräsident Günther Matheis fest. Die Landesärztekammer Rheinland-Pfalz kritisiert seit langem, dass die Abiturnote alleine „kein faires Auswahlkriterium für einen Studienplatz“ ist.
Urteil erfordert grundlegende Reform
„Das Bundesverfassungsgericht hat Bund und Ländern ordentlich die Leviten gelesen“, sagte Rudolf Henke, 1. Vorsitzender des Marburger Bundes. Jetzt sei es an dem Gesetzgeber, daraus die richtigen Schlussfolgerungen zu ziehen und endlich einheitliche, strukturierte und transparente Regeln zu schaffen, die das Recht auf chancengleichen Zugang zum Medizinstudium verwirklichten. Gleichzeitig müsse die bisherige Kapazitätspolitik auf den Prüfstand.
Bund und Länder in der Pflicht
Der Hartmannbund sieht ebenfalls „Bund, Länder und Hochschulen gefordert“, die fällige Reform des Zulassungsverfahrens zum Medizinstudium zügig in Angriff zu nehmen – hin zu einer gerechteren und stärker kompetenzbasierten Studienplatzvergabe“, sagte der Vorsitzende Klaus Reinhardt. Das Urteil des Verfassungsgerichtes sei zwar aller Wahrscheinlichkeit nach nicht der Startschuss für eine Revolution des Systems, aber zumindest eine Richtungsentscheidung, die wichtige Impulse setze zur Implementierung kluger Instrumente zur Auswahl der „richtigen“ Bewerber.
„Jede andere Entscheidung des Gerichtes wäre für uns eine riesige Enttäuschung gewesen“, sagte die stellvertretende Vorsitzende des Ausschusses der Medizinstudierenden im Hartmannbund, Käthe Lewicki. Die Medizinstudierenden im Hartmannbund fühlen sich durch das Urteil bestätigt – besonders mit Blick auf die vom Gericht angemahnte „standardisierte und strukturierte Form“ zur Wahrung der Chancengleichheit.
Breite Zustimmung
Sie plädieren bereits lange für ein bundesweit einheitliches Zulassungsmodell, bei dem die Abiturnote nur zu einem Drittel gewertet wird. Weitere gleichrangige Komponenten sollen ein bundesweit einheitlicher standardisierter schriftlicher Test sowie ein Assessmentverfahren sein. 20 Prozent der zu vergebenden Studienplätze sollen zudem durch individuelle Auswahlverfahren der Universitäten besetzt werden können, um entsprechende Schwerpunktsetzungen der Hochschulen zu ermöglichen.
„Es ist höchste Zeit, endlich auch andere Kriterien neben der Abiturdurchschnittsnote zu berücksichtigen und die angewandten Verfahren transparent, reliabel und strukturiert zu gestalten. Ortspräferenzen haben als Zulassungskriterium ausgedient“, erklärte Isabel Molwitz, Vizepräsidentin der Bundesvertretung der Medizinstudierenden in Deutschland (bvmd). Sie bemängelten aber zugleich, dass etwa die aus Sicht der Medizinstudierenden wichtige Abschaffung der Wartezeitquote nicht berücksichtigt wurde.
Der Vorsitzende des NAV-Virchowbund, Dirk Heinrich, betonte ebenfalls, es sei dringend notwendig, dass bundesweit weitere einheitliche Kriterien bei der Zulassung zum Studium Berücksichtigung finden. „So genannte weiche Faktoren wie Empathie, soziale Kompetenz und Kommunikationsfreudigkeit können durch ein persönliches Auswahlgespräch festgestellt werden. Dazu müssen die Medizinischen Fakultäten jetzt in die Lage versetzt werden“, erklärte er. Die wichtigste Aufgabe für die Länder sei jedoch, endlich die Zahl der Medizinstudienplätze deutlich zu erhöhen.
Zeitraum sehr kurz
Vom Medizinischen Fakultätentag (MFT) hieß es heute, das Urteil stelle klar, dass auch „Alternativen zur Wartezeitquote denkbar sind“. Auch die Rolle der Abiturnote sei relativiert worden. Zwar habe sie einen guten Vorhersagewert für einen erfolgreichen Studienabschluss und sollte daher weiterhin bei der Auswahl herangezogen werden, so der MFT. Die gesetzliche Vorgabe, dass allein die Abiturnote ein maßgebliches Auswahlkriterium sein dürfe, sei aber vom Gericht in Frage gestellt worden.
„Damit ist der Gesetzgeber, in diesem Fall die Länder, gefordert, ergänzende Kriterien, zum Beispiel einen spezifischen Medizinertest oder berufspraktische Erfahrungen, für die Auswahl der Bewerber festzulegen. „Wir teilen die Einschätzung des Gerichts und freuen uns, dass nun der Weg frei ist für Alternativen zur Wartezeitquote“, kommentierte MFT-Präsident Heyo K. Kroemer das Urteil. MFT-Generalsekretär Frank Wissing betonte, die Frist, alle Landesgesetze bis zum 31. Dezember 2019 anzupassen, sei „sehr knapp gesetzt“. Man müsse sich nun mit dem Gesetzgeber zusammensetzen und diese Umsetzung konkret angehen, erklärte er.
Bayern für schnelle Umsetzung des Masterplans Medizinstudium
Bayerns Gesundheitsministerin Melanie Huml sprach sich heute für eine zügige Umsetzung des „Masterplans Medizinstudium 2020“ aus, den Bund und Lände bereits Ende März 2017 beschlossen hatten. „Jetzt muss es darum gehen, die 37 Maßnahmen des Reformpakets auch zügig umzusetzen“, mahnte Huml.
Mit dem „Masterplan Medizinstudium 2020“ soll die Ausbildung der kommenden Medizinergenerationen neuen Herausforderungen wie etwa einer gesicherten ärztlichen Versorgung auch in ländlichen Regionen gerecht werden. So soll die Zulassung zum Medizinstudium verstärkt auf die zukünftigen Anforderungen an ärztliche Tätigkeiten ausgerichtet werden. Sozialen, kommunikativen Kompetenzen und einer besonderen Motivation für das Medizinstudium wird ein stärkeres Gewicht verliehen. Manko ist allerdings, dass die Finanzierung nach wie vor ungeklärt ist.
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